Gut gesättigt suche ich mir einen Schlafplatz. Diesen finde ich auch – in einem kleinen Wäldchen inmitten einer großen Kreuzung, auf der viele Autos unterwegs sind. Genau in der Mitte dieses Wäldchens steht ein altes, verlassenes Haus. Ich versuche die Tür zu öffnen, jedoch ist diese verriegelt. Ich laufe ein paar Runden um das Gebäude und suche nach anderen Eingangsmöglichkeiten, bis mir auffällt, dass das eine Fenster einen Spalt offen steht. Mit etwas Kraft kann ich es noch ein bisschen aufschieben – gerade so, dass ich durch den Schlitz passe. Ich werfe also erst meinen Rucksack hinein und klettere mühsam durch das Fenster, um dann auf dem Hosenboden zu landen. Jedoch lande ich weicher, als gedacht – auf einem alten, staubigen Teppich. Aus meinem Rucksack krame ich eine Taschenlampe, die zwar flackert, aber ihren Dienst trotzdem noch relativ zuverlässig tut. Ich stehe auf und schaue mich um. Ein so ruhiges Örtchen findet man nicht viel hier in London. Umso glücklicher bin ich, hier zu sein. An einem Ort, den vielleicht vor mir kaum jemand betreten hat, der ein Fünkchen Magie ausstrahlt, welches nach mir vielleicht niemand mehr entdecken wird.
Wie ich mich so umsehe merke ich, dass der Raum hier fast komplett leergeräumt wurde. Die Treppe, die zum Obergeschoss führt ist eingefallen und somit ist auch dieser Weg abgeschnitten. Doch als ich meine Taschenlampe durch den Raum schweifen lasse, bleibe ich an einem kleinen Schränkchen mit zwei Schubladen hängen. Langsam gehe ich auf es zu und will es gerade berühren, als es in sich zusammenfällt. Erschrocken über den Lärm mache ich einen Satz nach hinten – zum Glück, denn sonst wäre mir die eine Schublade auf den Fuß gefallen.
Hinter dem Schränkchen öffnet sich nun ein kleines Loch, gerade so, dass man gebückt durchgehen kann. Ich bahne mir also meinen Weg durch das morsche Holz in einen noch größeren, stockdüsteren Raum. Wie ich sehe, hat er zwar bodentiefe und große Fenster, jedoch she ich trotzdem nichts – die Sonne hat sich nun vollkommen verabschiedet. Mit offenem Mund schaue ich mich in dem riesigen Zimmer um. Die weiße Mustertapete ist an vielen Stellen schon nicht mehr weiß, sondern eher gelb und blättert ab. Der Boden ist aus Holz und knarzt laut beim Gehen. Ich habe das Gefühl, er könnte jeden Moment unter mir einbrechen. Dennoch setze ich meinen Weg fort – ich bin zu neugierig. Ich laufe unter einem großen gläsernen Kronleuchter entlang. Das Licht meiner Taschenlampe bricht sich in dem geschleiften Glas und bildet einen flackernden Regenbogen. An allen vier Wänden des Raums befinden sich hölzerne Stühle, die wohl mal auf Hochglanz poliert wurden. Heute liegt eine zentimeterdicke Staubschicht auf ihnen. Ich bleibe stehen vor einem kleinen Tischchen mit einem Schallplattenspieler. Freudig stelle ich fest, dass neben ihm sogar eine Schallplatte liegt. Vorsichtig puste ich den Staub herunter und setze die Nadel richtig an. Tatsächlich funktioniert das Gerät noch und ich bekomme eine langsame Walzermelodie zu hören. Das hier war also wahrscheinlich mal ein Ballsaal. Ich schließe meine Augen und wiege mich im Takt der Musik und stelle mir vor, wie es wohl damals gewesen sein mag. Als man sich noch zum Tanzen getroffen hat. Wie viele Menschen sich vielleicht nur durch Ballsäle kennengelernt haben? Wie viele Schuhe leidenschaftliche Tänzer wohl durchgetanzt haben? Und was haben die gemacht, die nicht tanzen konnten? Alles Fragen, auf die ich keine Antworten bekommen werde. Nur die Leute, die damals gelebt haben, werden sie kennen. Manchmal fühle ich mich klein und dumm. Es macht mich traurig zu wissen, dass ich niemals alles auf dieser Welt erkunden kann. Dass ich niemals eine Antwort auf alle meine Fragen finden kann. Und dass ich nur ein kleiner Mensch unter Millionen von anderen Menschen bin und nie etwas verändern können werde. Dann wird mir aber bewusst, dass es gar nicht wichtig ist, alles zu wissen und auf alles eine Antwort zu finden. Ich trage meinen Teil zu dieser Welt bei, ich bin Teil der Veränderung und ich wöllte auch nie etwas anderes sein.Im Schein meiner Taschenlampe sehe ich etwas kleines aufblitzen. Unter dem Tisch mit dem Schallplattenspieler liegt etwas Silbernes. Ich bücke mich und hebe es auf. Es ist eine kleine Kette mit einem Herz als Anhänger. Lächelnd lasse ich sie vor meiner Nase hin und her baumeln. Dabei entstehen lustige Lichtflecken an der Wand, die gemeinsam mit mir zur Walzermelodie tanzen.
So langsam merke ich, wie mir die Müdigkeit die Knochen hoch kriecht und beschließe, mich wieder zu meinem Rucksack zu begeben. Die Herzkette nehme ich mit. Ein letztes mal laufe ich über den knarzenden Holzboden, bevor ich aus dem Loch klettere und mich auf den weichen Teppich fallen lasse. Meinen Kopf lege ich auf meinem Rucksack ab. Die Kette liegt fest in meiner Faust. Ich öffne meine Hand, um mir den Anhänger noch einmal genau anzuschauen, da öffnet er sich und ein kleines Schwarz-Weiß-Foto kommt zum Vorschein. Darauf abgebildet ist ein Mann mittleren Alters mit vollem, dunklem Haar und einem Anzug mit Krawatte. Neben ihm lächelt eine Frau in die Kamera. Sie ist ein kleines Stück kleiner und sieht ein paar Jahre jünger aus. Sie hat ihre Haare nach oben gesteckt und ein vornehmes Kleid an. Hinter dem Bein des Mannes schaut ein kleines Köpfchen hervor. Es gehört zu einem kleinen Jungen, vermutlich dem Sohn der Beiden, der sich hinter Papas Bein versteckt. Ich schaue mir das Foto eine Weile an, bevor ich mit der Kette in der Hand einschlafe.
Verwahre mich in deiner Kette, die du mit sechzehn bekommen hast, direkt neben deinem Herzschlag, wo ich sein sollte – bewahre mich tief in deiner Seele.Die Sonnenstrahlen kitzeln mich wach und ich reibe mir den Schlafsand aus den Augen. So gut geschlafen wie in dieser Nacht habe ich lange nicht mehr. Ich setze mich auf und blicke mich um. Im Tageslicht sieht das Zimmer nicht halb so gruselig aus, wie im Dunkeln. Die Ecken des Zimmers sind voll mit Spinnennetzen und die Fenster lassen nur halb so viel Licht durch, wie sie theoretisch könnten, da sie seit Jahren nicht mehr geputzt worden sind. Der weiche Teppich, auf dem ich sitze zeigt viele kleine orientalische Muster. Ich fahre sie mit meinem Finger nach und frage mich, was sie wohl bedeuten. Ein leichter Windhauch öffnet das Fenster und reißt mich so aus meinen Gedanken. Der Weg ist nicht mehr weit und ich möchte heute Abend spätestens da sein. Also packe ich meine Sachen zusammen. Meine Schuhe sind über Nacht vollständig getrocknet, sodass ich sie wieder anziehen kann. Die Herzkette hänge ich mir um. Dann werfe ich den Rucksack aus dem Fenster und klettere hinterher. Als ich draußen bin, ziehe ich das Fenster vorsichtig zu und schultere danach meinen Rucksack.
Hier im Innersten der Stadt ist jeder nur mit sich selbst beschäftigt. Niemand achtet auf die anderen, wodurch ich auch gar nicht auffalle. Für die Leute bin ich vermutlich nur ein anderer Obdachloser, obwohl ich mich gar nicht als solcher bezeichnen würde. Ich habe mich selber dafür entschieden, wegzugehen und ich würde mich auch nicht anders entscheiden, hätte ich die Chance. Meine damaligen Freunde hielten mich schon immer für komisch. Wenn ich ihnen erzählen würde, was ich hier gerade tue, würden sie mich vermutlich auslachen. Und ja, vielleicht bin ich komisch – aber dann bin ich es gerne. Ich stelle gerne viele Fragen über Dinge, die sonst niemanden interessieren. Ich träume gerne davon, dass alles irgendwann besser wird und ich bin gerne alleine. Etwas was außer mir irgendwie niemand versteht.Ich blicke zum ersten mal seit Langem wieder nach oben. Ich bin jetzt sicher schon fünf Stunden gelaufen und ich spüre die Anstrengung der letzten Tage in meinem Körper. In der nicht allzu weiten Ferne sehe ich die leichten Wellen der Themse in der Sonne glitzern. Ich atme tief ein und aus und laufe schnellen Schrittes auf das Ufer zu. Ich laufe an diversen Cafés und Shops vorbei, mein Blick bleibt jedoch auf das Wasser gerichtet, bis ich letztendlich davor stehe. Ich schaue einfach nur zu, wie die Wellen tanzen und mit dem Licht spielen.
Nach einiger Zeit setze ich mich hin, ziehe meine Schuhe aus und halte meine Füße in das kühle Nass. Augenblicklich spüre ich ein leichtes Brennen an meinen wunden Füßen, welches jedoch schnell nachlässt und einer angenehmen Kühle weicht. So sitze ich einige Zeit einfach nur da und lasse meine Gedanken schweifen. Wo das Wasser wohl schon überall war? Was hat es schon alles gesehen und erlebt? Von wo kommt es gerade?
Ich hebe meinen Blick und merke, dass sich ein Junge in meinem Alter neben mich gesetzt hat und seine Füße ebenso ins Wasser hält. Er beobachtet mich. Ich schaue ihn lächelnd an, er lächelt zurück und wendet seinen Blick ab – dem Wasser entgegen. So sitzen wir nebeneinander und sagen nichts. Wir genießen die Ruhe und unsere gegenseitige Anwesenheit. Ich greife nach meiner Kamera und mache ein Foto von unseren Füßen. Das altbekannte surrende Geräusch ertönt und das Foto wird gedruckt. Ich klebe es in mein Fotoalbum neben die anderen Fotos.
Irgendwann ziehe ich meine Füße aus dem Wasser und betrachte sie. Sie sind schon ein bisschen schrumpelig geworden, so lange sitze ich schon hier. Ich lasse sie von der Sonne wärmen und trocknen. Sobald sie trocken sind, schlüpfe ich wieder in meine Schuhe. Ich stehe auf und setze mir meinen Rucksack auf. Ich merke, wie der Junge jede meiner Bewegungen verfolgt. Ich lächele ihm ein letztes mal zu, bevor ich mich umdrehe und meinen Weg fortsetze.
Und wenn du mir wehtust, dann ist das okay – nur Worte tun richtig weh. Innerhalb dieser Seiten hältst du mich nur fest. Und auch ich werde dich nicht gehen lassen. Warte bis ich nach Hause komme.
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Photograph [Completed]
Short StoryEine Songfic zu "Photograph" von Ed Sheeran. . "Es ist dunkel. Die Straßenlaternen färben die Luft um mich in ein chemisches Gelb. Der Asphalt glänzt tiefschwarz und es haben sich mehrere kleine Rinnsäle gebildet, in denen das Regenwasser bergab f...