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Erst nach Minuten realisierte ich, dass ich mich in seinen Armen befand. Er roch furchtbar nach Alkohol und Kneipe. "Bist du etwa noch gefahren gestern?" Er schüttelte den Kopf. Aus müden Augen blinzelte er gegen die Sonne, die sich langsam ihren Weg durch die Wolken kämpfte.  Tau lag auf den Blättern. Der Frühnebel begann sich erst jetzt zu verziehen. Unbewusst und vor allem ungewollt sog ich den Geruch an seinem Hals ein. Dort roch er auch nach sich selbst. Sein Griff festigte sich um meine Taille. Als hinter uns Tassen klirrten und kurz darauf Schritte zu hören waren, löste ich mich von ihm. Bärbel stellte die Tassen und den Kaffee auf den Tisch. Dann ging sie noch mal kurz rein und kam mit einer Decke für mich zurück. "Kind, du erkältest dich noch." Ich wickelte mich in die Decke ein. Bärbel und Chris waren ja schon angezogen, ich stand hier noch im Nachthemd.

"Du trinkst Kaffee?" Chris sah mich aufmerksam an. Bärbel antwortete ihm, dass es erst seit kurzem so war. Was sie nicht wusste, war, dass es erst wieder ging, nachdem ich mit Chris nach dem Friedhof einen Kaffee getrunken hatte. Es war eine schöne Erinnerung gewesen. Eine, die die Erinnerung an meine ehemalige Freundin und meinen Exfreund etwas kaschierte. "Seid ihr nicht auf Tour, oder wie das heißt?" "Wir haben jetzt Pause. Drei Wochen Ruhe." "Fahrt ihr denn in den Urlaub?" wollte Bärbel wissen.

Chris würde hier sein. Es war bstimmt nur Einbildung, aber er sah mich so komisch an. Dann redete er auf mich ein, denn jemand musste ihn sammt Auto nach Hause bringen. Aber wo sein Auto war, wusste er nicht. Im Gegenzug bot er mir an, dass er mit ins Krankenhaus kommen würde. Ich dürfte sogar das Auto leihen. Mit aller Kraft verneinte ich dies, aber Bärbel sah mich streng an. Sie war so etwas wie eine zweite Mutter für mich. So oft hatte sie mich im Arm gehalten in den letzten Wochen. So oft hatte sie mir versprochen, dass alles wieder gut werden würde. Eben so, wie meine Mutter es auch immer getan hatte. Aber es war halt nicht ganz das Gleiche. Bernd sollte bald wieder nach Hause dürfen. Er hatte eine OP erfolgreich überstanden und nun sollte das nicht noch ein drittes Mal passieren können, sagten die Ärzte. Nachdem ich meinen Becher ausgetrunken hatte, wickelte ich die Decke enger um mich und stand auf. Ich musste mich zunächst einmal anziehen. Und Zähne putzen. Hunger hatte ich nicht. Immer noch nicht. Ängstlich blickte ich auf mein altes, kaputtes Handy. Keine Anrufe. Das waren gute Neuigkeiten. Ich zog mir eine Jeans und ein Shirt an. Im Bad war ich schnell fertig und kämmte gerade meine Haare, als es an der Tür klopfte. Erschrocken sah ich zu der offenen Badezimmertür. Er stand in der Tür und sah mir zu, wie ich meine Haare kämmte. Aus irgendeinem Grund wurde ich nervös. Schnell legte ich die Bürste weg und band mir einen Zopf. Schüchtern sah ich ihn an, denn er stand in der Tür und ich wollte hier raus. Ich fühlte mich eingeengt. Gefangen. Er sah mir ins Gesicht und machte dann Platz. Als ich an ihm vorbeiging, war es wie ein elektrischer Schlag, als sich unsere Arme berührten. Wieder machte mir mein Gehirn etwas vor, was nicht da war. Ich schloss die Augen und atmete kopfschüttelnd tief durch. "Was ist?" "Ach nichts. Wir können los. Wo steht denn jetzt dein Auto?" "Keine Ahnung." Ich drückte ihm eine Wasserflasche in die Hand. Vielleicht half ihm das dabei, wieder vollständig nüchtern zu werden. "Und der Autoschlüssel?" "Hier. Nimm du ihn. Ich darf heute nicht fahren denke ich." Vor mir baumelte der Schlüssel des teuren Autos. "Nein, nein. Behalte du ihn." Er zuckte mit den Schultern, während wir die Straße entlang gingen. Wir suchten in der Nähe der Kneipen und fanden den Wagen recht bald. Als ich unschlüssig davor stand, legte er seine Hände von hinten auf meine Schultern und schob mich sanft und mit leichtem Druck zur Fahrertür. Er trat vor mich und schloss auf. Dann öffnete er mir die Tür. Erwartungsvolle braune Augen sahen mich an. Ich wollte so ein Auto nicht fahren. Also trat ich wie von selbst einen Schritt zurück.  "Was ist denn jetzt schon wieder? Das haben wir doch geklärt, dass du fahren musst." Genervt packte er nach meinem Arm, erwischte aber nur meine Hand. Beherzt packte er dort zu. Wie ein Schlag durchfuhr es mich und ich schüttelte unwillig meine Hand, aber er hielt einfach zu sehr fest. "Ich hab Hunger!" stieß ich verzweifelt hervor. "Dann essen wir hier erst irgendwo was. Kein Problem." Erleichtert stellte ich fest, dass er den Druck löste. Aber er ließ nicht los. Als ob ich weglaufen könnte. Seine Beine waren viel länger als meine. Und er war auch viel fitter als ich. Er schloss den Wagen wieder ab und zog mich an der Hand hinter sich her. Beim nächsten Bäcker hielt er an. "Und du hast wirklich Hunger?" Tapfer nickte ich. Eigentlich war mir schlecht. So sehr ich auch versuchte, mich seiner Hand zu entziehen, er ließ sie nicht los. Stattdessen grinste er mich bei jedem meiner Versuche schief an. Ich sah immer unglücklicher durch die Gegend. Doch er bestellte ungeniert ein Croissant und einen Tee für mich. Woher wusste er, dass ich so etwas genommen hätte? Er selbst aß ein belegtes Brötchen und trank einen Kaffee dazu. Ich nippte an dem Tee, schob das Croissant aber weg von mir. Mir wurde immer noch übel, wenn ich an Essen dachte. Bärbel brauchte immer viel Geduld mit mir, wenn es Essenszeit war. Aber irgendwie bekam ich ihr Essen immer runter. "Hey. Du hattest Hunger. Also iss auch." Vorwurfsvoll sah er mich an. Ich schüttelte bockig den Kopf. Ganz langsam beugte er sich zu mir. "Wenn du nicht isst, sorge ich dafür, dass du es tust. Du wirst noch Kraft brauchen. Glaube mir." Das klang wie eine Drohung. Dann nahm er das Croissant und hielt es mir vor den Mund. Sein Blick war durchdringend und warnend. Und so biss ich ab. Nur ein kleines Stück. Unerwartet gut breitete sich der Geschmack in meinem Mund aus. Lag es an ihm? Das konnte nicht sein. Denn ich wusste schließlich zu gut, dass ich mir nur einbildete, was ich dachte. Die Realität sah anders aus. Doch dieser Geschmack war unbeschreiblich. Ich hatte die Augen geschlossen, als ich plötzlich etwas an meinen Lippen spürte. Ich riss erschrocken die Augen auf, als ich realisierte, dass er mir gerade einen Kuss gegeben hatte. "Lass das bitte. Spiele mit den anderen Frauen. Aber bitte lasse mich außen vor." Traurig sah ich zu Boden. Mein dummes Herz. Doch er ließ sich natürlich nicht beirren. Wieder gab er mir einen kurzen Kuss. "Du bist für solche Dinge zu schade. Und jetzt noch einen Bissen" hauchte er rau an mein Ohr und im nächsten Augenblick hatte ich wieder das Croissant vor der Nase. Ich nippte schnell an meinem Tee, bevor er wieder auf die Idee kommt, dieses Spiel fortzusetzen. Doch er tat es trotzdem. "Genieße es doch einfach. Entspann dich. Ich tue dir nichts." Süße Versprechen wie diese verließen seine Lippen, während ich nach jedem Bissen einen Kuss bekam. Aber ich vergaß tatsächlich, dass ich weder Hunger noch Appetit hatte und mir eigentlich schlecht war.

Zurück am Auto hatte er meine Hand noch immer nicht losgelassen. Wieder stand ich vor der offenen Fahrertür. Diesmal bugsierte er mich schneller auf den Sitz, als ich etwas sagen konnte und neben mir fiel die Autotür ins Schloss. Als er sich auf den Beifahrersitz fallen ließ, steckte er den Schlüssel ein und ich startete den Wagen. Zitternd lenkte ich ihn aus der Parkbucht und ließ mich navigieren. Als ich den Wagen vor seinem Haus parkte und den Zündschlüssel abzog, atmete ich erleichtert auf. Dagegen war selbst Maries Auto ein Billigfabrikat. Chris sprang aus dem Auto und half mir hinaus. "Ich geh erstmal duschen. Und dann können wir meinetwegen ins Krankenhaus. Oder auch noch zum Friedhof. Wie du willst." Damit verschwand er im Haus. Zögernd schlich ich hinter ihm durch die geöffneten Türen in seine Wohnung. Ich wusste nicht wohin mit mir, als die Dusche schon rauschte. Also setzte ich mich auf seine Couch und wartete, ohne mich weiter zu bewegen. Türen gingen auf, Schritte waren zu hören. "Willst du einen Kaffee? Ich meine, einen guten Kaffee?" Er steckte den Kopf zur Tür hinein. Freier Oberkörper. Ich schluckte. Dummes Herz. Dummer Kopf. Schockiert sah ich zu Boden und nickte. "Dann komm her." Er zog sich aus der Tür zurück und als ich langsam hinterher ging, hantierte er schon an dem Monstrum von Kaffeemaschine. Mir stieg sofort der Duft von frisch gemahlenem Kaffee in die Nase. Wie er kurz darauf mit einem Becher Kaffee so vor mir stand, bekam ich weiche Knie. Das war kein gutes Zeichen. Ich hatte große Angst davor, was sich mein dummes Herz gerade zusammenspann. Sehr große Angst. Als er sich anziehen ging, sank ich kraftlos auf einen der Barhocker und nippte an dem Kaffee. Er war gut. Noch besser als der in der Firma es war.

Im Krankenhaus meldete ich mich an. Wie jeden Tag wurde ich bereits mit Namen begrüßt. Ich stellte Chris vor. Nachdenklich sah ich ihn an, als gefragt wurde, ob er auch mit reingehen würde. Chris sah mich nicht weiter an. "Willst du denn?" fragte ich ihn leise. "Darf ich denn?" Ich nickte. Warum auch immer, aber ich nickte. Die Schwester brachte uns auf die Intensivstation und erklärte Chris, wie er sich zu verhalten habe. Wir durften ohne Schutzkleidung zu Marie, das sie ja lediglich im Koma lag. Vor der Tür blieb ich stehen. Der Weg hinein fiel mir noch immer sehr schwer. "Redest du denn mit ihr? Versteht sie was?" Ich schüttelte den Kopf. "Ich habe noch nicht mit ihr geredet. Ich weiß nicht, was ich sagen soll." Wieder umfasste seine Hand meine Hand. Sanft drückte er zu, als ich die Klinke hinunterdrückte. Vor Marie war ich schließlich immer stark geblieben. Nie hatte ich geweint. Zusammengerbochen war ich stets vor der Tür. Chris sah aufmerksam zu meiner Schwester hinüber. Dann sah er allerdings mich an. Zögernd ging ich auf Marie zu. Wie immer strich ich ihr über die Wange und nahm ihre Hand in meine Hände. Und wie immer gab es keine Reaktion. Mit hängenden Schultern setzte ich mich neben sie. Würde sie je wieder wach werden? Wäre sie dann noch die Alte? Ich verbot mir, zu weinen. Ich musste stark sein. Für sie. Doch als sich warme Hände sanft auf meine Schultern legten, flossen die Tränen. Ich lehnte mich an ihn und weinte. Ich weinte hemmungslos. Alles, was sich angestaut hatte, über Wochen, kam jetzt heraus. Er strich mir über meine Haare. Er war ganz ruhig. Er war einfach da. Für mich da. Und ich war für Marie da. Erst, als ich mich etwas beruhigte, reichte er mir Taschentücher und zog einen zweiten Stuhl hinzu. Er saß mir gegenüber, neben dem Bettende. "Rede mit ihr. Du gehst kaputt. Das hilft ihr nicht." Ein kurzes Streichen über mein Bein. Er stand auf und ging hinaus. Ich sah zu Marie. Reden konnte ich nicht. Ich legte meinen Kopf auf ihr Bett und versuchte mich zu beruhigen.

Chris saß vorne im Wartebereich. Wir gingen schweigend zum Auto. Bei der dritten Fahrt fühlte es sich schon etwas sicherer an, das große Auto zu lenken. Auch das Gaspedal war nicht mehr ganz so furchteinflößend. Wir mussten bei einer Gärtnerei anhalten. Ich wollte das Grab noch etwas hübscher bepflanzen. Erstaunlicherweise half er mir bei der Auswahl sehr gut. Durch seine Mutter wusste er gut Bescheid, wie man ein Grab herrichten konnte und was man benötigte. Auch auf dem Friedhof ging er mir zur Hand und überlegte mit mir zusammen, wie man die Pflanzen anordnen konnte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber er brachte mich dabei sogar zum Lachen. Als alles erledigt war, stand ich vor dem Grab meiner Eltern. Chris hatte mit Wasser den Stein sauber gewaschen. "So schön hat es noch nie ausgesehen" gab ich zu und wischte mir mit der erdbeschmierten Hand eine Träne weg. "Du hast jetzt den ganzen Dreck im Gesicht!" grinste er mich an. Ich sah auf meine Hand und dann ihn an. "Komm mal her" forderte er mich auf und wischte mir das Gesicht mit dem Zipfel seines Shirts ab. "Besser!" "Danke" flüsterte ich und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. "Gerne" flüsterte er. Berührt stand ich vor dem Grab und sah auf den Grabstein. Hoffentlich würde hier nicht bald noch jemand meiner Familie liegen. Weitere Tränen rannen mein Gesicht hinab. Ich hatte so große Angst.

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