Gewidmet an NikolinaDrum
Als ich heute aufwachte, fühlte ich mich irgendwie komisch. Ich kann nicht genau beschreiben, was anders war als sonst. Wie jeden Morgen, war es mir kurz nach dem Aufstehen schwindelig, was vermutlich durch meine Unterernährung kommt, ich weiß es nicht genau. Das Schwindelgefühl am Morgen gehörte genauso zu meinem Leben, wie das Nichtvorhandensein von Schuhen an meinen Füßen. Ich lief langsam zu unserem kleinen Küchentisch, wo schon alle anderen auf mich warteten. Ich zog meinen Stuhl zurück und hätte mich beinahe neben ihn gesetzt. Na super, der Tag fing ja gut an! Klara und meine anderen drei kleinen Schwestern lachten, woraufhin ich ihr einen bösen Blick schenkte.
„Das ist nicht witzig!", fuhr ich sie etwas zu barsch an. Mein Vater warf mir durch seine Brille einen besorgten Blick zu. Ich versuchte ihn zu ignorieren, denn ich durfte keine Schwäche zeigen, hätte er mitbekommen, dass ich mich nicht gesund fühlte, könnte ich meine Arbeit heute vergessen und wäre damit meinen Job los. Doch das durfte sich meine Familie nicht erlauben. Also bemühte ich mich nicht auffällig zu wirken. Ich langte nach einer harten Schnitte und schmierte etwas Entenfett darauf, welches wir immer von unseren Verwandten aus Deutschland geschickt bekommen. Sie hatten einen kleinen Bauernhof und wohnten auf dem Land. In Deutschland gibt es noch viele Bauernhöfe, habe ich mir zumindest sagen lassen, anders als hier in England. Die meisten Menschen sind in die Stadt gezogen um Arbeit zu finden, jedoch gab es davon nicht genug für alle, weshalb viele arbeitslos waren und die Städte fast auseinander platzten vor lauter Menschen. Auf den Straßen kam man kaum vorwärts, weshalb ich immer eine halbe Stunde eher losmusste, um pünktlich bei der Arbeit zu seien. Meine Arme fühlten sich schlaff an und ich hatte Mühe, die Schnitte zu meinem Mund zu führen. Eigentlich hatte ich auch gar keinen Hunger, ich aß, weil es dran war.
„Liebes, was hast du eigentlich an deiner Hand gemacht?", wollte mein Großmutter plötzlich wissen, die seit Neustem mit bei uns wohnte.
Sie konnte sich ihre Wohnung nicht mehr leisten und lebte jetzt mit bei uns. Ihre warmen Augen sahen mich gutmütig und zugleich neugierig an. Ich überlegte, ob ich die Wahrheit erzählen sollte, doch das würde nur alle beunruhigen. Die Hand schmerzte zwar noch, aber nicht mehr so sehr wie sie es gestern getan hatte. Mein Blick wanderte auf meinen improvisierten Verband, er sah noch gut aus, kein Blut hatte durchgedruckt, weshalb die Verletzung wohl nicht so schlimm sein konnte.
„Ich habe mich gestern geschnitten, ist halb so wild", entschied ich mich für die Lüge.
„Und da brauchst du einen Verband?", fragte sie weiter und schien meiner Lüge noch keinen Glauben zu schenken. Shit.
„Es hatte sehr geblutet und bevor ich das Bett versaue, hatte ich lieber einen Verband darum gemacht, wir haben ja nicht so viel Bettzeug, um es dauernd zu wechseln", versuchte ich mich aus der Affäre zu ziehen.
Mit zusammengekniffen Augen beobachtete sie mich noch kurz, als könnte sie so herausfinden, ob ich die Wahrheit sprach. Ich hielt ihrem Blick stand. Wenn man den Bick senkt, ergibt man sich. Mit einem „Na gut" beließ meine Grandma es dann dabei, die Anspannung wich aus meinem Körper. Schnell aß ich meine Schnitte fertig, um mich den vielen Blicken zu entziehen, die nun durch die Fragen meiner Granny auf mich gerichtet waren, danke dafür. Heute hatte ich nicht einmal ein gemütliches Frühstück vor der Arbeit, großartig. Als ich den letzten Bissen in mich hineingeschlungen hatte, sprang ich auf, verabschiedete mich schnell und machte mich auf den Weg zur Arbeit.
~
Ich stand jetzt schon eine Stunde an der Papiermaschine, die mich gestern in eine so bescheidene und gefährliche Situation gebracht hatte. Meine Augen fielen mir fast zu. Ich versuchte sie immer wieder aufzuschlagen, doch es schien, als lägen Ziegelsteine auf ihnen und diese ließen sich nicht so schnell wieder entfernen. Mir wurde plötzlich heiß, obwohl wir uns hier in einer kühlen Fabrik Londons im Herbst befanden, mir sollte es also kalt sein. Was war bloß los mit mir? Schnell trat ich einen Schritt zurück, die Maschine konnte auch kurz ohne mich weiterarbeiten, und riss die Jacke von meinem Leib, die ich heute Morgen noch fix angezogen hatte, bevor ich aus dem Haus gestürmt war. Kühle Luft streichelte meine müden Arme, sie fühlte sich so gut an.
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Die Blüte der Hoffnung
Historical FictionMitte des 19 Jahrhundert boomt die Industrie in England. Während es den reichen Fabrikbesitzern besser denn je geht, verfallen die unteren Bevölkerungsschichte immer weiter der Armut. Krankenversicherungen und Unfallsversicherung gab es noch nicht...