Parallele Leben

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Bianca freute sich, nach erfolgreichem Praktikum einen Arbeitsvertrag für das Humboldt Forum bekommen zu haben.
Sie hatte nun als Social Media Verantwortliche Zugang zu allen Bereichen. Von der Noch-Baustelle bis zu fast fertig eingerichteten Museumsräumen konnte und sollte sie das Interesse der Öffentlichkeit wecken.

Immer, wenn sie an einem Original-Fassadenteil des Hohenzollernschlosses vorbei ging, fühlte sie sich ergriffen und innerlich warm.
Sie konstatierte dieses Gefühl, maß ihm aber keine Bedeutung zu. Sie mochte historische Sachen, besonders, wenn sie mit den Hohenzollern zusammen hingen. Ihre Promotion hatte schließlich auch dieses Adelshaus zum Thema.

Sie nahm sich als erstes Projekt vor, besonders aufwändig restaurierte Steinschnitzereien als Serie auf Instagram zu lancieren. Sie wollte sie so aufeinander folgen lassen, dass sie eine Geschichte erzählten.

Um ihre schwarze Alltagskleidung zu schützen, zog sie einen weißen Einweg-Overall an und erklomm das Gerüst. Später würde der Fries nur noch vom Boden der großen Halle aus zu sehen sein.

Bianca lief den Fries entlang und fotografierte. Ein Mann schrie auf, „die Weiße Frau!", und rannte davon. Bianca wunderte sich kurz und knipste weiter.

Der Mann telefonierte, er warnte den Chef des Hauses Hohenzollern vor kommendem Unheil. Der beruhigte ihn und nahm die Warnung nicht ernst.
In der Nacht starb der Onkel des preußischen Familienoberhauptes. Er war der letzte seiner Generation. Der Mann, der gewarnt hatte, fühlte sich bestätigt. Er war Historiker mit dem Auftrag, die Rolle der Hohenzollern in der Zeit von 1933 bis 1945 zu untersuchen.

Im Rahmen seiner Recherche war der Geschichtsforscher auch auf die Gerüchte um die Weiße Frau gestoßen. Immer wieder war sie Unheil voraussagend aufgetaucht. Fast jedes Mal starb hinterher ein Mitglied der Familie. Die Weiße Frau galt aber nicht als böser Geist, hatte sogar segensreich gewirkt, weil sie Napoleon erschreckt hatte. Sie erschien ihm in der Nacht an seinem Bett. Daraufhin mied er die Gegend um das Stammschloss der Hohenzollern weiträumig.

Bianca ging ihrer Arbeit nach. Die Fotoserie wurde ein großer Erfolg. Sie suchte eine dramatische Fortsetzung, um ihre Abonnenten nicht zu enttäuschen. Sie ging in die Gruft der Hohenzollern im Berliner Dom.

Draußen herrschte Hochsommer mit weit über dreißig Grad, drinnen Kellerkälte. Bianca fror in ihrem weißen Baumwollkleid. Daher ging sie schnell an den Prunksärgen vorbei zum Ausgang. Ein Besucher, der in eine Inschrift versunken war, erschrak bei ihrem Anblick. Er wurde blass, bekam Schnappatmung und wurde ohnmächtig. Bianca bemerkte das nicht, sie verließ die Gruft. Der Mann lag vor dem Sarg von Kurfürst Johann Georg. Bei der Erforschung seines Stammbaums war er darauf gekommen, dass er in direkter mütterlicher Linie von diesem abstammte.
Auch seine Vorfahrin starb nach dem Erscheinen der Weißen Frau, wie er recherchiert hatte. Daher rührte sein tiefes Erschrecken. Nun war er tot.

Bianca bereitete ihre Instagram Abonnenten auf die feierliche Eröffnung des Humboldt Forums vor. Dazu wollte sie Fotos und Interviews von und mit Hohenzollern einstellen. Sie machte Termine und begab sich auf die Reise.

Sie fing in Babelsberg bei Berlin an, nah und gleich ganz oben beim Chef des Hauses Hohenzollern. Mit schönen Bildern kehrte sie zurück. Dass ihr während des Gesprächs der Kreislauf zu schaffen machte, führte sie auf generelle Arbeitsüberlastung zurück. Dass die Stolperstellen im Herzrhythmus auftraten, wenn sie bestimmte Familienportraits ansah, fiel ihr nicht auf. Sie war froh, vom Prinz von Preußen die Erlaubnis bekommen zu haben, in der Burg Hohenzollern zu fotografieren und mit einigen Angestellten dort reden zu dürfen.

Sie fuhr also nach Baden-Württemberg. In Bisingen nahm sie Quartier. Das Heimatmuseum interessierte sie sehr, vor allem die Geschichte des Adelshauses.
Gut vorbereitet ging sie ins Schloss und machte ihre Fotos. Sie sprach mit dem Verwalter und dem Historiker, der dort gerade arbeitete. Mit ihm ging sie die Ahnenreihe durch und die Gemäldegalerie entlang. Bis in die 1550er Jahre reichten die Portraits zurück. Vor dem Bild der Kunigunde von Orlamünde wurde Bianca schwindelig. Der Historiker stützte sie und führte sie zurück in die Bibliothek. Nach Kaffee und trockenen Keksen fühlte sie sich wieder fit.

Das Bild der Kunigunde ging ihr aber nicht aus dem Kopf, zumal sie deren schaurige Geschichte nicht vergessen konnte. Eine Frau, die so im Liebeswahn gefangen war, dass sie ihre beiden kleinen Kinder tötete, weckte kein Mitleid in ihr. Dass sie der Geliebte vor Entsetzen über ihre Tat dann nicht mehr haben wollte, konnte Bianca gut nachvollziehen. Kunigunde wurde den Quellen zufolge wahnsinnig und fand der Sage nach auch im Tod keine Ruhe.

Bianca hatte in ihrem Hotel in Bisingen einen nachhaltigen Alptraum. Sie fühlte, wie Kunigunde sich ihr näherte und mit ihr verschmolz. Schweißgebadet wachte sie auf. Die Unruhe und Angst des Traums wurde sie auch am folgenden Tag nicht los. Das Gefühl war ähnlich jenem, das sie in den Katakomben des Berliner Doms empfunden hatte.

Zurück in Berlin ging Bianca wieder in die Gruft der Hohenzollern. Sie suchte den Sarkophag, vor dem ihr seinerzeit schwindelig geworden war und fand, dass es die letzte Ruhestätte von Johann Georg, Kurfürst der Mark, war. Ende des 16. Jahrhunderts war er gestorben, nachdem – wie sie sich der Legende erinnerte – ihm acht Tage vor seinem Tod die Weiße Frau erschienen war.

Bianca war eine Frau des 21. Jahrhunderts. Rational, modern, gar nicht mystisch angehaucht. Ihr war schlecht! Was passierte da mit ihr?
Sie beschloss, eine Geisteraustreibung zu veranstalten. Nur sie und Kunigunde, und vielleicht eine Flasche Rotwein.

Bianca stellte Geräte ab, zog alle Stecker, und versuchte, Elektrosmog in ihrer Wohnung zu vermeiden. Kerzen und das Glas Wein standen auf dem Tisch mit dem Foto, das sie vom Portrait der Kunigunde gemacht hatte.

Bianca kam sich lächerlich vor, wollte ihre Aktion aber durchziehen.
„Kunigunde, ich rufe dich."
In sich selbst hörte sie die Antwort, ohne Worte aber deutlich spürbar. Bianca fuhr mutig fort: „Kunigunde, ich will nicht, dass du mich benutzt. Hör auf damit!"
Als nonverbale Antwort spürte Bianca große Traurigkeit.
„Kunigunde, du willst mir und anderen doch nicht schaden, das spüre ich. Wie können wir dich bloß aus diesem blöden Zustand herausholen? Ich kenne mich überhaupt nicht aus mit so etwas. Ach, es ist so unglaublich unglaublich."
Bianca konnte nicht fassen, dass sie sich mit einem unsichtbaren Geist unterhielt. Das war nicht sie.

Dann spürte sie eine Veränderung. Die Stimme in ihr wurde verständlich, sie war ruhig aber bestimmt: „Du bist die Erste, die mit mir Kontakt aufnimmt. Danke dafür. Du hast Kraft, keine Angst und bist ein guter Mensch. Du kannst mich erlösen."
„Aber wie? Ich will dir helfen – und mir auch!"
„Geh mit mir in die Gruft. Nimm eine Babypuppe mit, eingehüllt in ein weißes Tuch. Wenn wir sie an dem Kindersarg ablegen, sprichst du die Worte, die ich dir vermittle. Ich werde dann mit der Puppe Frieden finden."

Bianca ging auf den Vorschlag der Stimme in ihr ein, als wäre es ein völlig normaler Vorgang. Sie fand das vernünftige Argument, dass die Puppe nicht lange dort liegen bliebe, weil ein Besucher sie sicher mitnehmen würde. Die Stimme erwiderte: „Ich bin nicht an die Puppe gebunden, sie ist nur mein Vehikel, um aus deinem Körper hinauszukommen – hoffentlich ins Nichts."
Bianca fühlte sich nicht mehr seltsam, sie führte die ungewöhnliche Konversation wie ein Gespräch unter Gleichen. Sie versprach, alles so durchzuführen, wie „Kunigunde" es vorschlug.

Kunigundes Geist zurück zu führen war einfacher als gedacht. Durch ihren Job hatte Bianca auch Zutritt zu der Gruft, wenn keine Besucher dort waren. Sie ging mit der Babypuppe im weißen Strampler, einer großen Baumwollwindel und doch wieder weichen Knien in die Gruft.
„Geh zum Kindersarg in der dritten Reihe", hörte sie. Dort angekommen vernahm sie den Text, den sie laut nachsprach, nachdem sie die Puppe eingewickelt abgelegt hatte.

„Und dacht, die Kindlein, die ich hätt, werden gewiss die Augen sein, die mich berauben des Buhlen mein! Doch nein es soll nicht sein!"

Bianca schauderte es, als sie die Worte nachsprach. Ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust, ein kalter Hauch an ihrer Wange, das Gefühl des Verlassenseins war alles, was sie wahrnahm.

Sie warf der Puppe einen letzten Blick zu und verließ die Gruft.

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⏰ Last updated: Sep 03, 2020 ⏰

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Die weiße Frau Where stories live. Discover now