Way too far

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Die Sonne liebkost den Horizont, während der Wind leise sein Lied zwischen den Baumwipfeln summt. Sie sitzt vor ihrem Baumhaus, auf der hölzernen Plattform hoch oben in der alten Eiche. Neben ihr liegt die rot-grün gestrichene, lange Strickleiter. Sie hat sie hochgezogen, denn sie möchte allein sein. Allein mit ihm. Sie möchte niemanden in ihr Reich lassen, denn es gehört nur ihr und ihm. Niemand soll sie stören, soll ihre Küsse unterbrechen, ihre Gespräche, ihre Blicke, ihr Schweigen. Sie weiß, dass er nur bei ihr sein kann, wenn sie allein ist, also ist sie allein. Für ihn. Sie weiß, dass sie abhängig ist, aber sie mag ihre Sucht. Was gibt es Schöneres, als von ihm abhängig zu sein? Sie nimmt keine Drogen, die ihren Körper zusätzlich schädigen, sie nimmt keine Mittel, die ihren Geist schwächen. Ihre Droge, ihre ganz persönliche Droge, hilft ihr, zu überleben. Er ist der Grund, warum sie die Qualen des Tages auf sich nimmt, warum sie die Nacht immer wieder aufs Neue begrüßt, anstatt sich vor ihr zu verstecken. Er hilft ihr, lässt sie sehen, dass auch die Nacht und der Mond ihr nur helfen wollen. Er hilft ihr, schenkt ihr Zärtlichkeit und Wärme, schenkt ihr Zeit und Ehrlichkeit, schenkt ihr Liebe und Kraft. Sie ist ihm so dankbar und kann ihm nur ihre Liebe zurück geben.

Sie winkelt ihre Beine an, verschränkt ihre Arme darüber und stützt ihr Kinn auf. Ihr dünner, blauer Pullover lässt erkennen, wie klein sie ist. Sie ist nicht schmal und schlank, sie ist dürr und abgemagert. Sie giert nach ihm, denn nur er kann ihr helfen, das Alles zu überstehen. Der Tag nagt an ihr, er nimmt ihre Kraft, er schwächt sie. Der Tag quält sie, er lässt sie schwach fühlen. Und deshalb wird sie immer schwächer. Sie isst viel, sie isst gesund, aber trotzdem wird sie immer schmaler. Sie mag ihren Körper nicht, sie weiß, dass sie zu dünn ist. Aber die anderen machen es ihr so schwer.

Langsam beginnt ihr Körper, sich vor und zurück zu wiegen, sie will sich durch ihre Bewegung wärmen. Richtige Wärme bekommt sie bald, wenn er sie endlich in seine schützende Umarmung nimmt. Sie weiß, dass sie warten muss, aber das Warten wird sich lohnen. Er wird kommen, da ist sie sich sicher.

Sanft streicht sie sich eine der langen Haarsträhne aus der Stirn, die immer wieder in ihr Gesicht fallen. Das Braun ihrer Haare war einmal stark und glänzte schön. Jetzt ist es stumpf und nur er kann es erstrahlen lassen. Sie überlegt schon lange, ob sie ihr Haar kurz schneidet, ganz kurz, damit man nicht mehr sehen kann, wie gebrochen der Glanz es ist. Sie kann sich aber nie dazu durchringen, denn er spielt so gerne damit. Sie mag das Gefühl sehr, wenn er ihr über ihren Kopf streicht, ihre Haare um seine Finger wickelt, wenn er sie liebkost. Sein Duft, sein betörender, kraftgebender Duft, den sie versucht, immer im Haar zu behalten, verflüchtigt sich bereits. Es ist das Einzige, woran sie zehren kann, wenn er nicht da ist, um ihre Hand zu halten. Allmählich wird es Zeit, dass sie ihn wiedersieht, zu lange ist es schon her. So lange schon, dass sie fast schon Angst hat, er könnte sie vergessen haben. Aber nur fast, denn sie weiß genau, wie sehr sie einander lieben.

Sie lässt ihren Blick schweifen, ihren ruhelosen Blick, der nur entspannen kann, wenn sie in seine warmen Augen sieht. Die gewaltigen Kronen der unterschiedlichen Laubbäume um sie herum strahlen in einem satten Grün, doch hier und da mischen sich bereits Rot- und Orangetöne darunter. Der Waldboden ist bedeckt vom Laub vergangener Jahre, Moos klettert an Baumstämmen und Steinen entlang. Der Himmel ist zartblau und die wenigen darüber ziehenden Wolken schimmern in einem schönen Rosa. Am Horizont, wo sich Himmel und Erde in inniger Umarmung vereinen, werfen die Berge, hinter denen sich die Sonne bald zur Ruh begeben wird, jetzt schon tiefe Schatten.

Ein paar müde Sonnenstrahlen küssen ihre Lippen, necken die spröde, rissige Oberfläche, wollen sie herausfordern. Sie lächelt, denn sie weiß, wenn die Sonne erst schlafen gegangen ist, dann wird er bald bei ihr sein. Sie mag die Sonne, doch sie verabscheut den Tag. Der Tag ist bitter und grau, er ist selbstsüchtig und hart. Die Sonne, das weiß sie, sie versucht, dem Tag ein bisschen Freundlichkeit einzuhauchen. Die verspielten Strahlen streuen Farben und Muster und Licht überall hin und die Wärme soll traurige Gedanken verscheuchen. Aber die Sonne ist so weit entfernt, dass der Tag seine knochigen Finger um sein Eigentum hält, niemals wird er seine Macht hergeben. Wenn die Sonne gegangen ist, und auch der Tag sich ausruht, um am nächsten Morgen seine Tyrannei fortzusetzen, dann kommen die Nacht und der Mond. Mit ihrem silbrigen Licht kühlen sie die Schmerzen der Welt, die der Tag ihr zugefügt hat. Mit zartem Lufthauch säubern und lecken Nacht und Mond gemeinsam die Wunden, mit kühlenden Regentropfen versuchen sie die Tränen wegzuspülen. Und mit der Nacht und dem Mond kommt er.

Way too farWo Geschichten leben. Entdecke jetzt