Ich habe nie zu diesen Mädchen gehört, die schon mit ihrer Schultüte in der Hand genau wussten, was sie einmal werden wollen. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meiner Barbie den neuesten Haarschnitt zu verpassen und alle Verwandlungsstufen der Pokémon zu lernen. Ich war keines von diesen Wendy-Gören, die schon immer davon träumten, eines Tages Tierärztin zu sein. Mich hatte meine eigene Planlosigkeit nie gestört. Ich dachte immer, dass mich der Geistesblitz noch rechtzeitig treffen würde. Ich war mir so sicher, dass der Tag kommen würde, an dem ich wissen würde, was ich mit meinem Leben anstellen werde. Irrtum! Nun war ich 18 Jahre alt, hatte mein Abitur in der Tasche und noch immer keinen blassen Schimmer, womit ich meine Brötchen verdienen sollte.
Aus diesem Grund hatte ich jetzt den Salat: Ich saß in einem VW-Bus, der gerade auf der State Route 1 durch Kalifornien fuhr. Roadtrip! Das hörte sich jetzt vielleicht aufregend an, doch der erste Eindruck täuschte. Man stellt sich einen Roadtrip richtig cool vor. Man fährt mit seinen besten Freunden durchs Land, hört gute Musik, übernachtet jeden Tag auf einem anderen Zeltplatz, wo man abends Marshmallows über dem Lagerfeuer röstet und ein Surferboy romantische Songs auf der Gitarre performt. So schön könnte ein Roadtrip sein. Aber nicht meiner! Denn ich war nicht mit meinen besten Freunden durch Kalifornien unterwegs, sondern mit meiner schrecklich netten Familie. Bei uns liefen nicht die Beach Boys, sondern „100 Sing Along Songs for Kids". Während meine kleine Schwester Lara jedes Mal fröhlich in die Hände klatschte, wenn „If you're happy and you know it" erklang, donnerte ich meinen Kopf gegen die Scheibe, worauf ich mir jedes Mal einen mahnenden Blick meiner Mutter einfing.
Anstatt abends am Lagerfeuer zu sitzen, übernachteten wir in zwielichtigen Motels. Das nächtliche Gestöhne aus dem Nachbarzimmer hielt Lara für das Monster im Schrank. Das war auch der Grund, weshalb sie stets bei mir im Bett schlief. Dementsprechend kurz waren meine Nächte, denn es schien so, als würde Lara in ihren Träumen zur Kung-Fu-Kämpferin ausgebildet werden. Kaum war sie eingeschlafen, begann sie auch schon mit ihren Kampfeinlagen. Sie war erst sechs Jahre alt, doch sie schaffte es trotzdem, mir mit ihrem zierlichen Körper diverse blaue Flecken zuzufügen. Frühmorgens sprang meine kleine Schwester dann ausgeschlafen aus dem Bett, während ich die Idealbesetzung für eine Horrorverfilmung von Schneewittchen gewesen wäre. Die passenden schwarzen Haare und die blasse Haut hatte ich eh. Augenringe und ein leerer Blick kamen nun hinzu.
„Jane, mach schon! Wir wollen pünktlich sein!", rief meine Mutter, während sie gegen die Badtür hämmerte.
Ich verdrehte die Augen. Die fünf Minuten machten doch jetzt auch keinen Unterschied mehr.
Auch wenn meine Mutter draußen wahrscheinlich schon einen Tobsuchtsanfall bekam, entschied ich mich trotzdem dazu, eine Dusche zu nehmen und meinen Körper somit dem chlorverseuchten Wasser auszusetzen, das meine Haare in den letzten Wochen in Stacheldraht verwandelt hatte. Seit unserem Amerikaaufenthalt hatte ich die Erfahrung machen dürfen, dass die Bedienung einer Dusche in den USA stets eine Herausforderung war. Während es bei mir zu Hause einfach nur einen Hebel gab, den man nach rechts oder links drehen konnte, um die Temperatur zu regeln, sah ich mich nun einem Armaturenbrett ausgeliefert, welches einem Flugzeugcockpit Konkurrenz machte. Zwei Wochen war ich nun schon in dem Land der Waffennarren und botoxgespritzten Filmstars. Während dieser Zeit hatte ich bestimmt ein Dutzend verschiedener Duschen kennengelernt. Bei manchen musste man drücken, bei anderen ziehen und bei wieder anderen drehen. Auf gut Glück drückte ich einfach einen der Knöpfe. Ich hatte den Größten genommen. Fehler! Erinnerung an mich: Drück nie wieder in fremden Duschen irgendwelche Knöpfe. Immerhin konnte ich nun nachempfinden, wie sich die Menschen im Mittelalter gefühlt haben mussten, wenn sie mit heißem Teer übergossen worden waren. Schreiend und splitterfasernackt machte ich einen Satz aus der Dusche und drückte meinen Körper gegen die kalte Fliesenwand. Ich hätte schwören können, ein abkühlendes Zischen gehört zu haben. Einen Moment verharrte ich in dieser Position. Erst als meine Haut wieder auf Normaltemperatur heruntergefahren war, löste ich mich. Das Badzimmer glich mittlerweile einer Dampfsauna, da noch immer das Wasser aus dem Duschkopf prasselte. Ich griff nach meiner Zahnbürste und drückte damit den großen Knopf, dem ich meine Mittelaltererfahrung zu verdanken hatte. Ich wollte nicht auch noch meine Hand opfern, nachdem schon mein Rücken daran glaubenmusste. Ich rechnete damit, dass der kochend heiße Wasserstrahl nun stoppen würde, doch stattdessen wurde das Wasser arktisch kalt. Ich fragte mich, ob überhaupt eine Logik hinter dieser Armatur steckte oder ob Amerikaner einfach nur eine Vorliebe für Überraschungseffekte hatten. Wie auch immer: Ich entschied mich, lieber eiskalt zu duschen, anstatt noch einmal einen Knopf auszuprobieren. Wer wusste schon, was dann passieren würde? Mittlerweile traute ich amerikanischen Duschen alles zu. Das kalte Wasser war am Anfang noch angenehm auf meiner verbrannten Haut, doch das änderte sich schnell. Ich reduzierte meinen Waschvorgang auf das Minimum und ließ ausnahmsweise meine üblichen Gesangseinlagen aus. Trotzdem floss am Ende mein Blut nur noch als Sorbet durch meine Adern.

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Jane und Jack (ehemals GAP YEAR)
RomanceDas Abi frisch in der Tasche, weiß Jane noch nicht, was das Leben für sie bringt. Deshalb wagt sie das Abenteuer und geht für neun Monate zu ihrer Großmutter in die USA. Jane stellt schnell fest, dass ihr Herz ganz andere Pläne für diese Zeit hat al...