Mit einem wohligen Seufzer wachte ich auf. Endlich war Wochenende, endlich hatte ich alle Zeit der Welt. Ich schlug meine Decke zurück und stand leichtfüßig auf. Wenn ich wach war, konnte ich nicht mehr lange liegen bleiben. Dann tapste ich zu meinem Ankleidezimmer, welches, genauso wie ein großes eigenes Bad, zu meinem Zimmer gehörte. Was wollte ich denn heute Schönes anziehen? Ich spürte, dass es warm werden würde, also entschied ich mich für ein luftiges Sommerkleid. Es hatte kurze Ärmel und ging mir bis zur Mitte des Oberschenkels. Um die Tallie war es etwas enger, was meine Figur betonte. Ich schlüpfte noch in einfache Flip-Flops ehe ich mich zum Bad auf machte. Sorgfältig kämmte ich mir dort meine langen schwarzen Haare, die sich bis zu meinem Po wellten. Alle meinten immer sie wären wunderschön, was mich jedes Mal wieder traurig machte. Anschließend putzte ich mir noch meine Zähne. Make-up benutzte ich nie, zu Anlässen wurde ich immer von anderen geschminkt.
Jetzt konnte wirklich ein neuer Tag beginnen. Nur noch eines fehlte, nämlich der Blick in meinen riesigen Spiegel. Ohne große Hoffnung stellte ich mich vor ihn. Langsam schlug ich meine Augen auf, die ich an diesem Tag noch kein einziges Mal geöffnet hatte. Es war wie jeder andere Tag auch. Ich sah nichts, wie immer.
Von Geburt an war ich blind. Ich hatte noch nie in meinem Leben die warme Sonne gesehen, noch nie den weißen Schnee. Aber ich hatte immer noch meine kleine, verzweifelte Hoffnung, denn die Ärzte sagten immer, dass meine Augen schon besser aussahen. Wahrscheinlich logen sie mir zuliebe, denn wer nimmt jemanden schon gerne den letzten Grashalm?
Naja, genug geredet. Ich wollte mich nicht selbst bemitleiden, denn ich konnte mich nicht über mein Leben beschweren. Meine Eltern waren ziemlich reich und einflussreich. Ich war ein Einzelkind, deswegen verwöhnten sie mich soweit es nur ging. Es gab nichts was ich nicht bekommen hätte, aber ich braute nicht viel. Nur Bücher und meinen Flügel.
Meine Mutter war eigentlich unfruchtbar und es war die schönste Überraschung ihres Lebens gewesen, als sie erfahren hatte, das sie mit mir schwanger war.
Ich ging auf keine Schule, sondern bekam alleine privat Unterricht. Leider. Daher kannte ich niemanden, außerhalb unserer Villa. Die verließ ich nur zu besonderen Anlässen und nie ohne 'dienerliche' Begleitung.
Mittlerweile war ich an der Treppe angekommen. Mit kleinen Hüpfern wirbelte ich sie hinunter. Doch ich verfing mich in einer Unebenheit des Teppiches und fiel der Länge nach auf dem Boden. Zum Glück hatte die Treppe dort schon aufgehört. Wie ich diese Treppe hasste. Jeden Tag hatte sie neue Tücken, wie Hubbel oder irgendwelche Kanten. Ich war auf ihr schon regelmäßig hingefallen und ich hatte mich auch des öfteren verletzt. Ich kannte jeden Winkel des Hauses und fand mich überall prima zurecht, nur bei dieser Treppe nicht. Ich stieß einen kurzen Schrei aus, während ich versuchte mich mit den Händen ab zu fangen. Leider konnte ich die Entfernung nicht richtig abschätzen und knickte mir schmerzhaft die Handgelenke um. Ich wimmerte. "Schätzchen? Ist dir etwas passiert?", rief da auch schon die panische Stimme meines Vaters. "Alles okay, Paps. Ich bin nur mal wieder von der Treppe gefallen, du kennst mich doch!", schrie ich zurück. So lieb ich meine Eltern auch hatte, sie machten sich einfach viel zu viele Sorgen um mich. Vorsichtig stand ich wieder auf und lief schnell in Richtung Küche. "Seht ihr? Mir geht es bestens! Ihr müsst euch echt keine Gedanken machen!", ich lächelte sie fröhlich an. Mit der Zeit hatte ich eine Art Gespür dafür entwickelt, wo sich Menschen und Gegenstände befanden. Auch auf der Straße konnte ich mich ohne Blindenstock oder Hund zurecht finden. Natürlich war ich nicht oft außerhalb unseres Grundstückes, aber wenn, dann machte ich immer "Party". Ich ging zuerst zu meiner Mutter und wollte ihr ein Küsschen geben, doch da nahm sie vorsichtig meine Hände.
"Mausie, deine Gelenke sind ganz blau! Das tut doch bestimmt furchtbar weh! Wieso sagst du uns so etwas nie?! Die Prellungen an deinem Bauch hast du uns auch verschwiegen, genauso wie die Schnitte an den Beinen. Amelie, mein Sweetie, bitte, wir wollen dir doch nur helfen."
Ich riss meine Hände weg.
"Ihr wisst aber genau, dass ich euer Mitleid hasse. Ich kann sehr gut allein auf mich aufpassen, nur weil ich blind bin, heißt das nicht, dass ich nichts kann. Als Eltern solltet ihr mich unterstützen, nicht versuchen vor der Welt zu verstecken!",
wütend stampfte ich aus dem Zimmer. Normalerweise rastete ich nie so schnell aus, aber nach einem Missgeschick war ich immer ziemlich schlecht drauf. Jetzt konnte nur eines Helfen: der Wintergarten. Er grenzte direkt an unser Wohnzimmer. Meine nackten Füße spürten den wurderbar kühlen Mamor als ich ihn betrat. Nicht mehr das warme Holz des Wohnzimmers. Ich berührte die weißen Vorhänge, die man im kompletten Wintergarten zuziehen konnte. Ich roch an den Rosen, die in Kübeln an den Seiten standen. Und dann streifte ich sanft den wunderschönen, schwarz glänzenden Flügel. Er war der teuerste Gegenstand unseres Hauses und hatte fast 300.000€ gekostet (das ist realistisch, es gab einen der hat einen für 1mio $ gekauft ;) ). Ich liebte ihn. Dieser Wintergarten durfte zudem auch nur von mir betreten werde. Das war mein Raum zum zurück ziehen. Früher einmal hatte ich meine Mutter gebeten ihn mir so genau wie möglich zu beschreiben. Daher wusste ich jetzt genau wie es hier aussah. Die Rosen pflegte ich selber und putzen tat ich hier auch. Ich will jetzt nicht eingebildet klingen, ich ließ mich wirklich nicht von meinen Eltern verwöhnen. Ich wollte kein verzogenes, reiches Kind sein. Das Einzige was ich jemals 'begehrt' hatte war dieser Flügel. Damals wünschte ich mir einen normalen schönen Flügel. Meine Eltern hatten mich daraufhin in unzählige Läden geschleppt, damit ich einen passenden fand. Schon nach dem dritten wusste ich, dass dieser hier perfekt zu mir passte. Meine Mutter widersprach natürlich erst einmal. Sie wollte einen GANZ teuren kaufen. "Ich möchte nur das aller beste für sie." Aber ich war nicht umzustimmen und damit mussten sie diesen kaufen. Was ich bis heute nicht bereute. Ich hatte ihn nun zehn Jahre. Mit fünf Jahren bekam ich ihn. Seitdem übte und spielte ich jeden Tag stundenlang.
Klavier zu spielen war mein Leben. Nur wenn ich spielte konnte ich mich richtig entspannen, nur dann konnte ich mich abreagieren. Ich liebte ihn abgöttisch.
Ehrfürchtig setzte ich mich auf den samtbezogenen Hocker und klappte den Deckel auf. Meine Finger fuhren über die Tasten. Wie ich dieses Gefühl liebte. Ich schloss die Augen, auch wenn es keinen Unterschied machte. Wie von selbst fingen meine Finger an, irgendeine Melodie zu spielen. Es war kein erlerntes Stück, ich hatte es mir auch nicht ausgedacht, es war eine einfache Improvisation. Ich tauchte immer mehr in die Welt der Musik ein, bis ich alles vergessen hatte. Es gab nur noch mich und die Musik, ich hoffte, dass es für immer so bleiben würde.
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Herzensmelodie
Teen FictionNiemand möchte gerne eingesperrt sein, oder? Amy ist es. Da sie blind ist, machen sich ihre Eltern viel zu viele Sorgen um sie. Ihr einziger Lichtblick ist auf ihrem Klavier zu spielen. Jeden Tag, jede freie Minute ihres Lebens. Dann ist auf einem...