31 - Zwischen Fluch und Segen

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„Es ist richtig, dass er oben geblieben ist. Danke, dass du ihn überzeugt hast. Ich denke, dass er diesen Anblick nicht hätte ertragen können." Jevhen blickt durch die dunkle Scheibe, unmittelbar zu dem unruhigen Jungen. „Als wäre er besessen. Stell' dir mal vor, wir hätten ihn nicht fixiert." Ein lauter Schrei, ähnelt eher einem tierischen Gebrüll.

„Entweder hätte er uns oder den Raum auseinandergenommen oder... Hm. Wobei ... Viel gibt es dort nicht zu zerstören. Dazu müsste er erst einmal den Tisch oder das Bett bewegen. Wird wohl etwas schwierig werden, wenn Beides an dem Boden angeschraubt ist." Beide Hände sind zu Fäusten verkrampft. Die Brust zuckt schnell nach oben und nach unten. Der gesamte Körper ist angespannt – Mikołaj stemmt sich mit aller Kraft gegen die weißen Schnallen. „Er wäre eher auf uns losgegangen." Kaden zuckt mit keiner Wimper, als der Junge urplötzlich verstummt. „Es fängt also so langsam an." Sie haben seine Werte vor einer halben Stunde gemessen. Die besorgniserregenden Faktoren? Der viel zu hohe Blutdruck und der rasende Puls. „Wie hast du die Verabreichungen der Gegenmittel geplant?"

Jevhen schaut flüchtig zu seinem Begleiter. Sie haben sich seit fünfzehn Minuten nicht von der Stelle gerührt. Dieser Vorraum ist klein und schummrig. Ein schlichter brauner Tisch mit zwei alten Klappstühlen. An der rechten Wand ein winziger Schrank, bei der eine Tür fehlt. Man kann nicht wirklich erkennen, was dort gelagert wird. Diese nackte Glühbirne strahlt ein erschöpftes Licht aus. Erstarrte Schatten harren auf den weißen Wänden und auf dem spärlichen Mobiliar aus.

„Das ist noch nicht alles. Jakub verhielt sich deutlich extremer und gefährlicher", meint Jevhen sachlich und scheint mit einigen Gedanken zu spielen. „Das hättest du sehen müssen. Da hättest du wirklich Angst gehabt." Kaden erwidert nichts. „Alle sechzig Minuten. Je nachdem, wie extrem die Entzugserscheinungen sind. Ich habe ursprünglich vorgehabt, mich an der Schwere des Entzuges zu konzentrieren. Wenn ich beispielsweise feststelle, dass Mikołaj mehr als zwanzig Minuten am Stück durchgehend schreit, werde ich ihm helfen." Keine Bewegungen, kein Laut. „Du kannst zu ihm gehen, wenn du willst. Er wird dir nichts tun. Stell' dich bloß darauf ein, dass er wieder schreien wird." Kaden hadert mit sich. Schließlich lenkt Jevhen das überzeugende Argument ein: „Ich sehe dir an, dass du dir gerne ein eigenes Bild machen willst. Ich vermute mal, dass das zum Teil mit deiner Tochter zu tun hat."

„Bleibst du hier?" Er macht Anstalten, zu der robusten Stahltür zu gehen.

„Wo soll ich sonst hin?" Jevhen lächelt leicht. „Ich behalte die Lage von hier aus im Auge. Geh' ruhig."

„Okay. Ich dachte nur, dass du ... zu Jakub willst. Eigentlich braucht er dich gerade mehr als Mikołaj dich." Kaden wartet nicht länger und betritt den erleuchteten Raum, in welchem Mikołaj liegt. Ein kräftiger Ruck, und die Tür ist verschlossen. Wenn er hinaus will, müsste er Jevhen informieren. Von innen lässt sich die Tür nicht öffnen.

Mikołaj wimmert. Manchmal krampft sich sein Körper ein wenig zusammen. Es kommt selten vor, dass solch ein Anblick ihn berührt und nicht kalt lässt. Insgeheim weiß er nicht, wie er reagieren soll. Was er für Gefühle offenlegen soll. Es kommt ihm surreal vor. Wie in einer anderen Welt, in welcher er nicht mehr als Drogenhändler tätig ist. In dieser düsteren und leidensvollen Welt wird er zum allerersten Mal mit den Qualen und Schmerzen der Konsumenten konfrontiert. Und Kaden kann dieses Mal nicht wegschauen. Also tritt er zögerlich zum Bett heran. Hinter sich spürt er Jevhens Blick. Kaden hält links vom Bett inne. Wagt einen ersten Blick. Und weicht unbewusst einen halben Schritt nach hinten. Sämtliche Farbe scheint den Neunzehnjährigen verlassen zu haben – er ist unnatürlich blass. Ein gruseliger Kontrast zu seinen nahezu weißen Augen, denn aufgrund der Entzugserscheinungen haben sich die Pupillen sehr verkleinert, sodass sie einem winzigen Fleck ähneln. Alles in allem, findet Kaden, sieht der Junge wie ein halbtoter Blinder aus.

Symmetrie der HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt