Als Lena die Treppe heruntergestapft kommt, schaue ich nur kurz auf. In unserer Kindergruppe wollen wir heute Pizza backen. Während die Kinder oben im Gruppenraum schon eifrig beim Teigkneten, Salamischneiden und Pilzeputzen sind, will ich aus der Abstellkammer noch schnell die übrigen Bleche holen. Lena ruft aufgeregt nach mir. Da sie aber ständig irgendetwas furchtbar Wichtiges vorzeigen will und ich gerade nach dem letzten Blech ganz oben auf dem Regal fische, ignoriere ich sie. Erst als mich das Mädchen am Pullover zupft, bemerke ich den drängenden Ton in ihrer Stimme und drehe mich um. Ihr Anblick lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Sie hält das scharfe Schneidemesser in ihrer kleinen Hand, die ebenso wie ihr Arm über und über blutverschmiert ist. Die rote Flüssigkeit tropft auf den Boden und bildet schon eine kleine Pfütze. Erst jetzt sehe ich, dass sie eine blutrote Spur hinter sich hergezogen hat.
Sobald ich mich aus der Erstarrung gelöst habe, heißt mein erster Gedanke: „Erste Hilfe! Wo ist Verbandszeug?“ Als ich mich hektisch umsehe, fällt mein Blick zufällig auf meinen neuen Pullover, der nun auch rote Flecken hat. Ob das mit dem Billigwaschmittel, das ich kürzlich gekauft habe, herausgeht? Vielleicht hätte ich doch etwas mehr Geld investieren sollen? Frau Zobel, die Wäschereibesitzerin von nebenan, sagt immer … Aber was sind denn das für Gedanken? Eigentlich sollte ich meinen Pullover in Stücke reißen und einen Verband daraus machen. So funktioniert das zumindest immer im Fernsehen. Allerdings - der Pullover war wirklich teuer, und bestimmt saugt er auch nicht richtig.
Also: Wo ist Verbandszeug? Im Büro! Genau! Ich ziehe Lena an der Hand hinter mir her. Sie stottert dabei verwirrt: „ Aber Frau Müller, aber ich …“ Das muss wohl der Schock sein. Gab es da nicht eine spezielle Schocklage?! Wie war das nochmal? Ich erinnere mich an Tante Magda, die damals in Ohnmacht gefallen ist, als Onkel Hugo die geräucherte Forelle in ihrer kunstvolle Schokoladentorte hatte fallen lassen. Damals hatte man sie auf eine Decke gebettet und ihre Füße auf den Sessel hochgelegt. OK, das sollte hinzukriegen sein. „Leg dich schnell dort hin“, sage ich zu Lena und deute auf den Teppich im Büro. Sie gehorcht zögernd. Dann ziehe ich den Bürostuhl herbei und hebe ihre Füße darauf. Der Drehstuhl bewegt sich dauernd zur rechten Seite und Lena muss sich etwas anstrengen, um die Beine oben zu halten, aber das mit der Schocklage ich auf jeden Fall geschafft.
„Aber Frau Müller, ich wollte doch nur …“, beginnt Lena wieder. Sie soll sich jetzt bloß keine Vorwürfe machen und sich aufregen. „Das ist alles gar nicht schlimm.“, unterbreche ich sie mit beruhigender Stimme, wobei mir noch nicht ganz klar ist, wen ich eigentlich beruhigen will. „Bleib jetzt ganz still.“ Ich sammele mich kurz. Es fehlt nur noch der Verband. Ein Druckverband wäre wohl richtig. Aus dem Verbandskasten, den ich unter dem Schreibtisch gefunden habe, stapele ich mit zittrigen Fingern drei Verbandspäckchen auf Lenas Arm und ihre Hand und wickele alles, was ich an Mullbinden finde, darum. Hauptsache, die Blutung ist gestoppt. Lena will derweil keine Ruhe geben und strapaziert meine Nerven. Als sie zum wiederholten Male stottert „Aber Frau Müller, ich wollte doch nur …“, überlege ich kurz, ob ich ihr ein Verbandspäckchen in den Mund stopfen soll, verwerfe das dann aber als unprofessionell und rede statt dessen weiter beruhigend auf sie ein. Ich sollte sie einfach nicht zu Wort kommen lassen.
Da steht Thilo in der Tür: „Frau Müller, wo bleibt den Lena! Wir brauchen das Messer wieder für die Salami.“ Wie kann er bei solch einer Verletzung noch an das Messer, oder schlimmer, an Salami denken? Angesichts solcher Ignoranz und Gefühlskälte bleibt mir für einen Moment die Spucke weg, und ich starre Thilo an. Diesen Moment nutzt Lena, um ihren etliche Male begonnenen Satz zu beenden. Etwas weinerlich jammert sie: „Frau Müller, ich wollte doch nur fragen, ob ich den Ketchup hier unten am Waschbecken abwaschen darf. Oben liegen nämlich gerade die ganzen Paprikaschoten unter dem Wasserhahn.“
Ich straffe mich, antworte lächelnd mit einem gönnerhaften „Aber gerne, Lena.“ und helfe dem Mädchen beim Aufstehen. Dabei fällt der Druckverband zu Boden und bildet dort ein kleines Kunstwerk aus Plastik und Mull. Lena trippelt Richtung Toilette, und ich erinnere mich, dass es mir früher auch immer sehr schwer gefallen ist, frische Ketchupflaschen zu öffnen.
Als mein Blick wieder auf meinen Pullover fällt, durchflutet mich Erleichterung. Ich bin mir sicher, dass Frau Zobel gesagt hat, dass Ketchupflecken viel leichter herauszuwaschen sind als Blutflecken.
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Erste Hilfe
Short StoryManchmal muss man schnell reagieren. Und wer macht dann schon alles richtig?