Heute ist einer dieser Tage, da hängen die Wolken so tief, wie das Gemüt. Leichte Nebelschwaden wirbeln sanft um meinen Körper, während ich auf den Weg zu Nona bin und versuche den größten Pfützen auszuweichen.
Nona ist meine Großmutter. Sie heißt nicht wirklich so, die Bezeichnung blieb hängen, weil ich mit zwei Jahren das Wort Oma nicht richtig aussprechen konnte. Ihr richtiger Name ist Annegret, kurz Gretchen, wie meiner. Und ja, die dummen Sprüche sind mir alle geläufig.
Wer kennt nicht die Fischgräte oder Anne, die kleine Teekanne. Und ja, es bezog sich auf meine etwas fülligere Figur.
Wie originell.
Frustriert rolle ich mit den Augen, wenn ich daran denke, wer mir diese tollen "Kosenamen" angedichtet hat und schließe die Jacke noch ein Stück weiter. Insgeheim verfluche ich mich, dass ich meine kuschelig warmen Handschuhe daheim habe liegen lassen und vergrabe die Hände tiefer in die Jackentaschen. Es ist nicht der erste Herbst den ich erlebe, daher sollte ich eigentlich wissen, wie unberechenbar sich der Oktober gerne zeigt.
Herbsttage sollten – meiner bescheidenen Meinung nach – bunt und sonnig sein und nicht nur nasskalt und düster. Das Laub sollte, in seinen schönsten Herbstfarben leuchtend von kleinen Windböen erfasst um einen herumtanzen, während die letzten kräftigen Sonnenstrahlen selbst die durchfrorensten Knochen wärmen. Wenn ich aber das heutige Wetter betrachte, spiegelt es wunderbar meine momentane Stimmung wider.
Ich habe das Krankenhaus erreicht, in dem Nona seit ein paar Tagen liegt und laufe durch die sich automatisch öffnenden Türen. Warme Luft bläst mir entgegen und verhindert das Beschlagen der Brillengläser, was ich unglaublich praktisch finde, wenn man sich Situationen ins Gedächtnis ruft, in denen einem sofort die Sicht geraubt wird und minutenlang blind durch die Gegend tasten muss.
An der Information frage ich nach der Stations- und Zimmernummer meiner Oma, weil meine Mutter vergaß, sie mir mitzuteilen und ich sie auf der Arbeit nicht stören will.
Nachdem die Dame hinter dem Tresen regelrecht unfreundlich die gewünschte Information herausrückt, mache ich mich auf dem Weg. Entweder reagiere ich heute besonders empfindlich auf negative Schwingungen oder das miese Wetter schlägt sich nicht nur bei mir nieder.
Wie auch immer. Ich stehe vor der Zimmertür meiner Großmutter, atme tief durch und setze mein bestes Lächeln auf, denn ich will ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten, die sie sowieso schon hat und klopfe an, bevor ich eintrete. »Hallo Nona.«
»Gretchen, mein Schatz. Komm rein.« So trist das Wetter ist, um so strahlender empfängt mich das herzliche Lächeln meiner Großmutter. Leise schließe ich die Tür und blicke mich in dem kleinen Zimmer um, indem sich zwei weitere Betten befinden, die jedoch für den Moment leer stehen. Bei meiner Oma angekommen, erkenne ich, dass ihr Handgelenk eingegipst in einer Schlaufe an ihrem Körper anliegt, was sie nicht hindert, mich erfreut an sich zu drücken.
»Nona, was machst du denn für Sachen. Kaum bin ich ein paar Tage nicht da, liegst du im Krankenhaus.« Ich löse mich aus ihrer Umarmung, setzte mich neben sie auf das Bett und nehme ihre gesunde Hand in meine. »Was ist denn passiert?«
»Ach Gretchen, du weißt doch wie das bei alten Leutchen so ist. Da ist man etwas unachtsam und schon hat man sich was gebrochen. Halb so schlimm.« Noch immer lachend spielt sie die Situation herunter, als läge sie nicht mit gebrochenem Handgelenk im Krankenhaus, sondern nur mit einer simplen Erkältung im Bett. Bei ihren Worten muss ich den Kopf schütteln und setzte eine besorgte Miene auf.
»Na ja, das erste Mal ist es aber auch nicht. Du weißt doch, was der Hausarzt bei deinem letzten Besuch gesagt hat. Du bist auch nicht mehr die Jüngste.«
»Na also hör mal«, schnaubt sie vergnügt und zupft liebevoll an einer meiner widerspenstigen dunkelbraunen Locken, die sich unbemerkt aus dem Dutt gelöst haben. »So alt bin ich auch wieder nicht. Ich war eben ein bisschen ungeschickt bei der Apfelernte.«
»Ungeschickt, nennt man das jetzt so...?« Eine Augenbraue wandert halb belustigt, halb ungläubig nach oben und ich erkenne das heitere Funkeln in den braunen Knopfaugen meiner Oma, welches auftaucht, wenn sie die Wahrheit ein bisschen beschönigt.
»Vielleicht habe ich nicht so sehr darauf geachtet, dass die Leiter stabil am Baum angelehnt stand und vielleicht war ich auch ein klitzekleines bisschen zu ungeduldig, bis dein Opa die Zeit fand, sie zu sichern.«
»Nona!«, entsetzt starre ich sie an. »Das ist nicht dein Ernst! Manchmal frage ich mich wirklich, wer von uns beiden die Vernünftigere ist. Eigentlich solltest du mir ein Vorbild sein und nicht als Beispiel dienen, wie man es nicht macht.«
Liebevoll kneift sie mir in die Wange. »Ein bisschen mehr real erlebte Abenteuer stünden dir aber auch nicht schlecht, anstatt sie nur zu lesen, Kindchen. Geh raus und erlebe etwas. Man versteht erst was Leben bedeutet, wenn man es fühlt, nicht, wenn man darüber liest. Und um Gottes willen, geh und verliebe dich endlich! Gretchen, du bist 16 Jahre alt, du solltest deine Eltern mittlerweile mit... wie nennt man das heutzutage... Dates... zur Verzweiflung treiben. Und hör auf dir so viele Sorgen zu machen. Es ist nur eine leichte Fraktur und ich werde übermorgen bereits entlassen.«
Seufzend betrachte ich meine Oma. Sie ist schon ein Fall für sich, denn bis auf den Namen teilen wir so gut wie keine Gemeinsamkeiten. Nona gehört der abenteuerlichen Sorte Mensch an, der keine Aufgabe zu herausfordernd ist, während ich die Nase lieber in Büchern vergrabe und mit einer Tasse Tee gemütlich und sicher Abenteuer daheim erlebe. »Du weißt doch wie es ist. Die Überkreuzung der Interessen zwischen den Jungs in meinem Alter und mir ist schwindend gering. Und wie du schon richtig bemerkst, ich bin erst 16 Jahre alt. Ich habe noch genug Zeit dafür.«
Ein leises, energisches Klopfen unterbricht die Unterhaltung und eine junge blonde Frau in Krankenhausuniform betritt das Zimmer, mit einem Klemmbrett in der Hand. »Guten Abend Frau Seidel, ich muss noch einmal ihren Blutdruck überprüfen und ich bringe Ihnen auch gleich Ihre Abendmedikation.«
Ich rutsche vom Bett und verabschiede mich schnell von Nona mit einem Kuss auf die Wange. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mich sputen muss, um die nächste Bahn zu erreichen, zudem will ich der Krankenschwester nicht unnötig im Weg stehen. »Dann bis übermorgen. Ich freue mich darauf, wenn du wieder daheim bist.«
Es ist dunkel, als ich das Krankenhaus verlasse und eile gedankenverloren zur Bahnstation. Ich liebe es, Zeit mit meiner Oma zu verbringen, denn ich weiß nicht, wie sie es schafft, aber mit ihr verrinnt sie wie im Flug. Zusätzlich hüpfen ihre Worte, dass ich mehr am Leben teilnehmen soll, ununterbrochen in meinen Gedanken herum.
Mich trennen nur noch wenige Meter von der Bahnstation, als mich ein lautes Hupen erschreckt herumfahren lässt, nur um im nächsten Moment eine Ladung Wasser entgegen gespritzt zu bekommen.
Verdammte Schei...benkleister!
Angewidert spucke ich das Wasser aus, was nicht nur meine Jacke völlig durchnässt, sondern auch in meinen Haaren landete und mich wie ein begossener Pudel dastehen lässt und blicke dem Moped-Fahrer, der sich nicht genötigt fühlt, zu halten, perplex hinterher.
Da ich mir hervorragend Texte merken kann, notiere ich gedanklich das sechsstellige Kennzeichen – wer weiß, für was es gut ist, denn laut einem Sprichwort: Sieht man sich immer zweimal im Leben.
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✔ | HerbstLiebe
Teen Fiction»Manche Aufgaben erledigt man gerne und manche nicht, z. B. mit der eigens erklärten Persona non grata Zeit zu verbringen. Aber wer bin ich, meiner "armen, alten" Großmutter eine Bitte abzuschlagen. Doch irgendwann platzt auch mir endgültig der Kra...