Der Nachtzug

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„Ich pfeif auf deine Weisheiten, Mom." schrie Sally in ihr Telefon hinein. Seit Stunden musste sie sich das Gemecker ihrer Mutter anhören, warum sie sich doch auf einen viel zu älteren Mann eingelassen habe, der sie nur auszunutzen schien. Ihre Mutter machte es sich schon immer zu ihrer Aufgabe, sich in ihr Leben und ihre Beziehungen einzumischen. Doch mit Anfang 30 wurde das selbst Sally zu überfürsorglich. „Dieser Mann macht dich nur kaputt. Denk doch an deine Zukunft. Soll das wirklich der Mann deiner Kinder werden, Sally?" Die Bahn füllte sich nach einiger Zeit immer mehr und selbst der jungen Sally wurde es zu unangenehm, sich vor den anderen Fahrgästen so bloßstellen zu lassen. „Es reicht. Wir reden, sobald ich zuhause bin, Mom. Du vergisst einfach, dass ich keine 12 mehr bin."
Ihre Mutter seufzte etwas länger als normalerweise ins Telefon und Sally konnte mit ihrem geistigen Auge das zustimmende Nicken durch den Hörer sehen. „Alles klar. Ich bleib dann solange noch wach, bis du hier bist."  Das war der letzte Satz, bevor der Hörer sein bekanntes Tuten von sich gab. Erleichtert, dass das Gespräch sein Ende nahm, ließ sich die entnervte Brünette in ihren Sitz fallen. Immer, wenn sie mit ihrer Mutter stritt, saß sie kerzengerade da, um sich überlegener zu fühlen. Doch danach fühlte es sich so an, als hätte sie an einen Marathon teilgenommen. Mittlerweile legte sich auch das Getuschel um Sally herum. Der halbe Zug schien von ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Mutter Wind bekommen zu haben. Peinlich berührt zückte sie ihr Handy und versuchte sich, so gut es ging, abzulenken. Auf Facebook gab es meist die besten Ablenkungen. Freunde, die sich über Politik oder irrelevante Themen unterhielten, nahmen ihr sämtliche Unruhe und erlaubten ihr eine billige Unterhaltung. Einer ihrer Freunde, Jeff, postete vor einigen Stunden ein Selfie inmitten einer Menschenmenge. Er trug eine Maske und hielt ein Schild mit der Aufschrift „Black Lives Matter" in die Kamera. Sally fand es bemerkenswert, wie engagiert sich Jeff für andere einsetzte. Sie kannte ihn bereits aus Schulzeiten, obwohl sie jetzt kaum noch Kontakt hielten, abgesehen von den ganzen Facebookpostings, die sie an seine Existenz erinnerten. Sie scrollte weiter durch ihren Feed, bis sie sich nur noch langweilte. Müde scrollte sie nochmal ganz nach oben, um den Feed zu aktualisieren. Ob noch irgendeiner um diese Uhrzeit etwas posten würde? Währenddessen hielt der Nachtzug lang und stöhnend an einer Haltestelle an. Die Aufschrift des Bahnhofs war bereits von Pflanzen übersäht. Es war dunkel und eine einzige Laterne beleuchtete die ganze Station. „Lakersville" offenbarte das Schild. Komisch, von diesem Ort hatte sie noch nie gehört und angesagt wurde er auch nicht vom Bahnpersonal. Es stieg auch niemand aus oder ein. Verwirrt zuckte sie nur die Schultern, bevor der Zug sich wieder knarrend fortbewegte und sie sich erneut ihrem Handy widmete. Lange musste Sally auf die Aktualisierung der Seite warten. Anscheinend gab es gerade kein Netz. Als Sally gerade aufgeben wollte, auf die Verbindung der Seite zu warten, ploppte der Feed einen neuen Beitrag auf. Der Post war grau und anscheinend noch nicht vollständig geladen. Sie runzelte genervt die Stirn und stieß ein Seufzen aus. Kurz blickte sie zu den anderen Fahrgästen, um sich das Warten auf den neugeladen Post zu erleichtern. Eine junge Frau lehnte sich an einen Mann mit Basecap und schlief ungestört. Beide sahen gemeinsam unglaublich schön aus und strahlten eine gewisse Harmonie aus. Sahen Billie und sie für andere genauso aus oder zogen die Leute, so wie ihre Mutter heimlich über die beiden her? Bedrückt schaute sie wieder zurück auf ihr Display und bemerkte, dass der Beitrag nun vollständig geladen war. Es war das Seitenprofil einer jungen Frau mit braunen Haaren, die auf einem Bahnsitz saß. Sie hielt ihr Handy in der Hand. Nachdem Sally müde ihre Augen zusammenkniff, um einen genaueren Blick auf das Bild zu werfen, bemerkte sie auch, dass das Foto von der dreckigen Außenseite eines Fensters gemacht wurde. Nun riss sie die Augen hellwach auf.
Es war Sally.

Du fährst nie alleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt