Mailbox

230 42 7
                                    

Das kann doch nicht sein. Ungläubig starrte die Brünette zu den aussteigenden Fahrgästen auf dem Bahnhof. Müssen wirklich alle hier raus? Sie knabberte angespannt auf ihren Lippen herum, sodass sich ihr roter Lippenstift langsam löste und sie den Geschmack des billigen Produkts schmeckte.

Angestrengt überlegte Sally, ob sie nicht eventuell auch hier aussteigen sollte. Dort gäbe es zumindest eine Menschenmenge, in die sie ganz einfach untertauchen könnte. Doch gerade als sie sich dazu entschied und aufstehen wollte , fuhr der Zug bereits los. Scheiße, fluchte sie innerlich. Das war's wohl. Wieder drehte sie sich nach hinten, um zu sehen, ob sie sich nicht geirrt hatte. Doch niemand.

Das unwohle Gefühl blieb wie ein nerviger Juckreiz weiterhin an ihr haften. Sie wünschte sich gerade nichts lieber, als bereits Zuhause angekommen zu sein und sich mit ihrer Mutter wieder zu versöhnen, auch wenn sie Unrecht hatte. Dann fiel es Sally plötzlich ein. Sie würde ihre Mutter anrufen, damit sie zumindest eine vertraute Stimme bei sich hatte. Schnell suchte sie den Kontakt ihrer Mutter in ihrem Handy und drückte auf "Anrufen". Das Tuten klang diesmal unheimlich lang und verzerrt. Sally schaute auf ihr Display und runzelte die Stirn. Warum geht sie denn nicht ran? Plötzlich ertönte die Stimme ihrer Mutter. Doch, als Sally gerade etwas sagen wollte , bemerkte sie , dass es sich nur um die Mailbox hielt. Sie legte auf und drückte erneut auf den Knopf zum Anrufen. Schläft sie etwa schon? Sie wollte doch auf mich warten, dachte sich Sally entnervt. Als auch dieses Mal niemand ranging und das Tuten Sallys Ohren erfüllte, stieß sie einen lauten Seufzer aus. Sie fühlte sich auf irgendeine Art von ihrer Mutter gedemütigt, als würde sie sie bestrafen wollen, wie damals in ihrer Kindheit. Wenn Sally anderer Meinung, als die ihrer Mutter war, ignorierte sie ihre Mutter und bestrafte sie mit Abweisung.

Sally sah sich erneut im Abteil um und fixierte ihren Blick auf den roten Notschalter und las behutsam die Aufschrift darüber. "Nur im Notfall betätigen". Wann hatte jemand diesen das letzte Mal betätigt und warum? In Gedanken verloren drehte sie sich wieder nach vorne und schrie auf, als eine schwarze Gestalt vor ihr stand. Ihr Herz raste wie verrückt und hinterließ eine Unruhe in ihrem Körper. Doch sie konnte sich beruhigen. Es war nur der Schaffner. "Alles in Ordnung?", fragte der dickbäuchige Mann in Uniform. "Sie haben mir gerade auch einen Schrecken eingejagt. Ich wollte nur Ihre Fahrkarte sehen." Sally entschuldigte sich rasch und ließ es, ihn über ihre Angst zu informieren. Schnell zückte sie ihre Fahrkarte aus ihrem Portemonnaie und sah dem Mann direkt ins Gesicht. Er war schon etwas älter und trug einen altmodischen Schnauzer, den man meist in typischen Schmuddelfilmchen sehen konnte. Er wirkte lieb und weise, wie ein verrückter Onkel, den man nur zu gerne besuchte. Nicht so, wie ihrer, der selbst ein Alkoholiker war und womöglich in ein zwei Jahren deswegen drauf gehen würde. Still gab der Mann Sally ihre Fahrkarte zurück und nickte noch einmal zur letzten Bestätigung. "Haben Sie noch einen ruhigen Abend, junge Dame. Und erschrecken Sie mich ja nicht nochmal so!"

Du fährst nie alleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt