eins

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Sicht Ben:
„...sagte der kleine Rabe", lächelnd schiele ich über das Kinderbuch zu Raya, die friedlich in ihrem Bettchen eingeschlafen ist. So friedlich und zufrieden. Langsam und so leise wie möglich stehe ich auf, lege das Buch zur Seite und drücke meiner Kleinen einen sanften Kuss auf den Kopf. „Papa hat dich ganz doll lieb. Immer", flüstere ich Raya zu, während sie ungestört im Schlaf weiter an ihrem Schnuller nuckelt. Schließlich verlasse ich auf leisen Sohlen ihr Zimmer und schleppe mich erschöpft in die Küche. Meine Kräfte sind am Ende. Mühsam klammer ich mich an die Arbeitsplatte und lasse mich auf einen der Stühle am Tresen sinken. Mein Blick hefte ich auf die Wasserflasche vor mir. Erst jetzt bemerke ich, wie trocken meine Lippen von all dem Vorlesen doch sind. Ich nehme einen großzügigen Schluck und beim Abstellen des Glases geriet ein Bilderrahmen auf der gegenüberliegenden Kommode in mein Blickfeld. Ein wenig zitternd fahre ich mir durch mein Gesicht, als würde es mir neue Energie schenken und trete dann vor das Möbelstück. Behutsam streiche ich über die Gesichter, welche mir auf dem Bild strahlend entgegen springen. Es zeigt Leyla, Raya und mich. Kurz nachdem ich meine Beiden mit nach Hause nehmen konnte. Neben dem Foto von Zoe und Mira liegt ein weiterer Bilderrahmen. Er ist absichtlich nicht aufgestellt. Dennoch weiß ich ganz genau, wo das Foto entstanden ist. Dr. Moreau hat es auf Leylas und meiner Nicht-Hochzeit geschossen. Im Vordergrund stehen wir beide und liegen uns glücklich in den Armen. Im Hintergrund sind all unsere Gäste etwas unscharf zu erkennen. Eine Erinnerung an vergangene, schöne Zeiten, die einfach zu sehr schmerzt, als das ich sie ständig ertragen könnte. Zugegeben bin ich nicht böse darüber, dass Leyla jetzt erstmal in der Schweiz auf der Hochzeit ihrer Nichte ist. Aber es bleibt die Frage, wie es weitergehen soll. Das Gespräch mit Julia hat mir zwar gezeigt, dass es Menschen mit viel größeren Problemen gibt, aber Leyla einfach so verzeihen? Das kann ich nicht. Immer wieder sehe ich sie vor mir, mit ihm - Dr. Stein. Immer wieder blitzen diese Blicke zwischen den beiden vor mir auf. Wie Leyla mit ihm ist. Fast so wie damals, an dem Tag unseres ersten Treffens. Bis heute hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass sie mich überhaupt angerufen hat. Und warum? Weil sie die gleichen Gefühle für mich, wie ich für sie hatte und die ich noch immer habe. Ich empfinde auch nach all den Jahren das gleiche für sie. Ihr wunderschönes Lächeln, ihre Art, die jedes mal ein warmes Kribbeln in mir auslöst und ihre Augen, die mich immer wieder in ihren Bann ziehen. Diese Erinnerungen und das, was die Frau, die mir einst erklärt hat, sie hätte Angst das wir alles zerstören würden, wenn wir uns das Jawort geben, angerichtet hat sind einfach erdrückend. Mein Leben besteht nur noch aus Raya, Haushalt, arbeiten und lernen. Die Worte meines Doktorvaters sind zwar zu mir hervorgedrungen, aber was können sie schon ändern? Ich bin der Einzige, der es in die Hand nehmen kann. Bisher hatte ich keine Motivation an der Datei, die Mikko wiederherstellen konnte weiterzuschreiben und selbst wenn würde mir einfach die Zeit dazu fehlen. Raya ist nunmal wichtiger und diesmal bin ich tatsächlich Schuld daran, dass Leyla nicht auf sie aufpassen kann. Ich wollte schließlich Abstand und bin nicht mitgefahren, anderseits hätte Leyla unsere kleine Bohne auch einfach mitnehmen können. Seufzend ziehe ich die Schublade heraus, um unser Hochzeitsbild in ihr verschwinden zu lassen. Da taucht ein weißer Umschlag auf, einen Brief, den ich längst vergessen hatte. Er stammt aus London und wurde direkt ans JTK geschickt. Während ich ihn an mich nehme muss ich leider auch den Anblick der Schatulle mit unseren Eheringen ertragen. Schleunigst knalle ich das Bild in die Schublade und schließe sie mit voller Wucht. Kurz fluche ich. Hoffentlich hat Raya nichts gehört und schlummert sorglos weiter. Mit meinem Handy und dem Brief aus dem Royal Hospital lasse ich mich auf die Couch fallen. Gedankenverloren drehe ich in in meinen Händen. Vor einer Weile haben sie mir ein Jobangebot geschickt. Sie wollen mich unbedingt wieder an ihrer Klinik sehen. Bisher war das keine Option für mich - oder vielleicht doch? Ewigkeiten starre ich auf die Zeilen des Blattes und suche dann nach der richtigen Nummer in meinen Kontakten. Mein Herz weigert sich, aber mein Verstand hat längst die richtige Entscheidung getroffen...

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