Sally Bates' Entdeckung - Teil 1

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Sally Bates hatte 236 Katzen, Hunde und andere Haustiere bestattet. Heute jedoch war etwas anders. Das Begräbnis war eines der kleineren, unbedeutenderen. Normalerweise weinten die Menschen und es war üblich, einige Familienmitglieder und Freunde einzuladen. Einige Kunden würden sogar eine ganze Zeremonie planen, obwohl diese dennoch unvergleichbar mit der Beerdigung eines Menschen war. Die Kunden würden ihr Angebot annehmen, religiöse oder literarische Zitate zu verlesen, ein bestimmtes Lied zu spielen oder einige persönliche Wort zu sagen. Einige würden sogar eine Handvoll Sand in das winzige Loch in der Erde werfen. Sally hatte so oft gehört, dass solch eine Zeremonie den Besitzern des Haustieres half, sich von ihrem Liebling zu verabschieden. So oft hatte sie erleichterte Gesichter gesehen, wenn sie ihr für ihre Arbeit dankten.

Dieses Mal war es anders. Da war nur diese eine Frau, die alle Besonderheiten abgelehnt hatte. Sie hatte tatsächlich nur gewünscht, dass Sally ein Loch in die Erde grub. Sally fragte sich, weshalb die Dame sie überhaupt engagiert hatte. Sie hätte ihre Katze im Garten begraben können. Sie sah nicht aus wie jemand, der es abstoßend fand, ein totes Tier anfassen zu müssen. Ihre trostlosen Augen beobachteten Sally, während sie die Kiste in das vorbereitete Loch hob.

Die Frau wollte ihr dabei zusehen, wie sie die Stelle mit Erde bedeckte, bis sie wieder eben war. Als ob sie sicher gehen wollte.

Als Sally Bates fertig war, trat sie einen Schritt zurück, um das kleine Plastikschild zu holen, das sie vor dem Grab in die Erde steckte. Darauf stand

Anastacia

24. Mai 2011

Möge der Herr uns im ewigen Himmelreich wieder vereinen.

Der zusätzliche Schriftzug war der einzige Beweis, den Sally Bates hatte, dass der Dame diese Kreatur tatsächlich am Herzen lag.

„Sie dürfen so lange bleiben wie Sie möchten und Sie können diesen Ort wann immer Sie wollen besuchen, so oft Sie mögen", rezitierte Sally automatisch.

Als sie von den psychotischen Augen, die durch sie hindurch starrten, keine Antwort erhielt, deutete Sally ein Nicken an und entfernte sich so leise und respektvoll wie sie konnte. Sie ging zu dem kleinen Häuschen, das sie als Büro und für überdachte Zeremonien benutzte.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und sah aus dem Fenster, um zu überprüfen, ob sie die Dame von dort aus beobachten konnte. Ihre Konturen waren sichtbar, wenn Sally sich an ihrem Schreibtisch nach vorn beugte. Malerisch hing der dunkle Mantel der Frau in strengen geraden Linien an ihrem Körper, der an dieser Stelle mit der Erde verwurzelt war. Wenn der Wind nicht die Baumwipfel bewegt hätte, hätte Sally dieses Bild für ein Standbild halten können. Sie lehnte sich zurück und verlor die Frau aus dem Blick. Sally nahm einen dünnen Hefter aus einem der Ablagekörbe. Er enthielt Notizen zu Anastacias Bestattung. Normalerweise würde Sally diesen Moment nutzen, um die Rechnung zu schreiben, aber sie konnte sich nur schwer konzentrieren. Ihre Aufzeichnungen für den Wortlaut, der auf der kleinen Gedenktafel stand, erweckte Erinnerungen an ihr erstes Treffen.

„Wissen Sie ihren Geburtstag?", hatte Sally in ihrer sanften, professionallen Stimme gefragt, nachdem sie ihr Sterbedatum notiert hatte.

„Warum?"

„Oh, die meisten geben diese Information mit an. Aber das müssen Sie natürlich nicht.

Die Dame hatte leicht ihren Kopf geschüttelt. Dann hatte sie einen ihrer Arme unter ihrer Brust verschränkt, während sie den anderen auf eine geradezu zärtliche Weise auf ihren Busen legte. Nur ihr Daumen hatte auf ihren Kurven gezittert, die für ihre Figur ein wenig zu groß zu sein schienen. Es war in diesem Moment, dass sie etwas Ungewöhnliches verlangte.

Ein Klopfen an der Tür durchbrach Sallys Gedanken. Tom lugte in den Raum und trat ein, sobald er sicher war, dass keine Kunden drin waren. „Hi, Schatz." Er begrüßte Sally mit einem Kuss. „Ist alles okay?"

„Ja, sicher! Hast du schon Feierabend?"

„Sozusagen. Heute war nicht wirklich viel los." Ihr Verlobter war Journalist. Er hatte Sally stark dazu ermutigt, dieses einzigartige Geschäftskonzept umzusetzen, als sie das College mit einem Abschluss in Betriebswirtschaftslehre verließ. Ihre Sondierung des Marktes und die Berechnungen hatten sich als richtig erwiesen. Sie war mit ihrem kleinen Haustier-Bestattungsunternehmen ziemlich erfolgreich, gleichzeitig hatte sie das Gefühl, anderen helfen zu können.

„Wer ist denn die schräge Frau?" Tom spähte aus dem Fenster.

„Eine Kundin."

„Katze oder Hund?

„Katze."

„Sie ist gruselig", verkündete Tom.

„Sie ist ein wenig seltsam, ja."

Er drehte sich um, damit er Sally ansehen konnte, seine Augenbrauen waren nach oben gezogen. „Ein bisschen?" Sein Blick wanderte zurück zu der Figur auf dem Rasen. „Hast du ihre Augen gesehen?"

„Gott, Tom, sie trauert."

„Wie alt war die Katze?"

„Ich weiß nicht. Sie hat sie vermutlich aus dem Tierheim, sodass sie selbst ihr genaues Alter nicht weiß."

„Wie sieht sie aus?"

„Wieso fragst du?" Sallys Stimme war argwöhnisch.

Die Worte, die Tom daraufhin murmelte, waren von Sallys Entfernung kaum zu hören: „Ich habe das Gefühl, dass sie nicht um ihre Katze trauert."

„Das habe ich gehört!" Etwas in Sallys Stimme muss Tom irritiert haben, denn er drehte seinen Kopf wieder zu ihr um, damit er sie betrachten konnte. Sally hielt es nicht aus, wie er sie fast eingehend begutachtete. Sie stand auf, ging um ihren Schreibtisch herum und hielt vor ihm. „Ich habe deine Neugierde satt!"

Tom lachte ein wenig. „Das ist unmöglich. Bei Neugierde geht es darum, etwas Neues herauszufinden, den eigenen Horizont zu erweitern. Man kann keine neuen Dinge satt haben. Man kann Dinge, die man bereits kennt, satt haben; Alltag oder so etwas."

"O-KAY", stieß Sally hervor. „Vielleicht war ‚satt haben' falsch. Ich will nur sagen: wie wär's damit, ausnahmsweise mal keine Fragen zu stellen?"

„Aber das bin ich! So bin ich!"

„Ja, wie bei der Hochzeit meiner Freundin letzte Woche. Ich weiß genau, warum du so scharf darauf warst hinzugehen, obwohl du kaum einen der Gäste kanntest." Sie machte eine Pause. „Das war nur, weil es eine jüdische Hochzeit war! Ich finde, das sollte ich dir jetzt mal sagen. Es hat mich genervt, dass du mir ständig deine Rechercheergebnisse ins Ohr geflüstert hast, dass du mir erzählt hast, was sie taten und sagten und warum sie diese Tradition in ihrer Kultur haben."

„Aber du sprichst doch kein Hebräisch, oder?"

„Du verstehst es einfach nicht!" Sally schüttelte ihren Kopf. Sie ging zurück zum Schreibtisch und setzte sich, als würde sie aufgeben.

Tom folgte ihr. Sally spürte die Wärme seiner Hände auf ihren, die sie davon abhielt, mit ihren Notizen herumzufummeln. Er hockte sich auf der anderen Seite des Schreibtischs hin, damit er in der Lage war, ihr in die Augen zu sehen. „Hast du...ernsthaft ein Problem mit meiner Neugierde?"

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