Schleichendes Verderben (Teil 1)

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Die weiten Grasflächen breiteten sich vor ihm aus, durchzogen von schmalen Flüssen, kleinen Seen sowie etlichen Dörfern, deren Dächer sich Himmel streckten, als versuchten sie, die Wolken zu erreichen. Der Elfensee selbst lag still und ruhig dar, das Wasser schwappte gegen die Pfeiler der sieben unterschiedlichen Brücken und hin und wieder tauchte die Flosse eines Fisches in den sanften Wellen auf, nur, um in der Dunkelheit des Sees schnell wieder zu verschwinden.

Als er noch jünger gewesen war, hatte Nukritas sich gefragt, wieso der See seinen besagten Namen trug, denn Elfen lebten hier mit Sicherheit nicht. Die Geschichte besagte, dass die Elfen früher, zu Zeiten des Großen Chaos, ein riesiges Volk mit einer eigenen Stadt gewesen waren – mit einem wunderschönen Schloss, erbaut inmitten eines Sees mit sieben Türmen, um den sieben Clansherren Ehre zu erweisen. Doch mit dem Großen Chaos schwanden auch drei der Clans und nur vier blieben zurück, die sich in alle Winde verstreuten und ihr wunderschönes Schloss fiel den neuen Göttern anheim, die es für sich in Anspruch nahmen und die erste Kirche ihrer Religionen ins Leben riefen.

Ob die Geschichte der Wahrheit entsprach, wusste Nukritas nicht; das Große Chaos war in einigen Erzählungen eine Anarchie gewesen, in anderen nur ein dunkler Nebel, der sich über das Lang gezogen und sich mit Erscheinen ihrer Götter aufgelöst hatte. Der junge Lichtritter glaubte allerdings, dass irgendetwas in diesem Chaos gelebt hatte, denn ihre Götter waren immerhin selbst einst Menschen gewesen.

Und der See selbst hatte seinen Namen behalten, um seinen früheren Bewohnern Respekt zu zollen und nie war ein Clan auf die Idee gekommen, die Kirche der Götter für sich zu beanspruchen. Nukritas hatte Geschichten wie solche sehr gerne gehört und jeden einzelnen Satz regelrecht aufgesaugt, begierig darauf, immer mehr und mehr zu hören. Diese Begeisterung war jetzt, wo er selbst Teil zu solchen Geschichten geworden war, erheblich abgeflaut. Auch wenn er bereits seit knapp drei Jahren ein Lichtritter war, so schaffte es niemand so wirklich, ihn wie einen normalen Menschen zu behandeln. Ihre Rekruten und neuen Paladine sowie Templer verbeugten sich immer, wenn sie ihm begegneten, wurden nervös und stotterten, wenn er ein Wort an sie richtete und bekamen stets das Gefühl, seiner nicht würdig zu sein.

Nukritas fand das lächerlich: Er selbst entschied doch wohl, wer würdig war, um in seiner Nähe zu sein und wer nicht. Und bisher hatte er niemanden als unwürdig betrachtet. Die Augen des jungen Paladins strichen die kleine Taschenuhr, die ihn ein Handwerker aus Volcanius geschenkt hatte. Ein großer Zeiger stand immer auf einen von vierundzwanzig kleinen Punkten und sagte ihm somit die ungefähre Zeit an, angefangen zu rechnen bei Mitternacht, wo die dunklen Kräfte angeblich am Stärksten waren. Es war das erste Geschenk an ihn gewesen und ihm waren noch viele weitere gefolgt. Nukritas steckte die Taschenuhr wieder ein und hob den Blick. Von seinem Standort aus, dem höchsten Punkt der Kirche der Götter, vermochte er es, meilenweit zu blicken und in der Ferne erkannte er sogar die Silhouette des Unüberwindbaren Gebirges schimmern. Zwar war es immer noch nicht warm, aber zumindest schneite es nicht und er musste nicht bei jedem Schritt mit den Zähnen klappern, wie es im Königreich Collis der Fall gewesen war. Nukritas vermisste die Dritte Große Stadt nicht sonderlich, auch wenn es ihn dorthin zurückzerrte, einfach nur um zu wissen, wie das Schicksal der Stadt aussehen mochte. Bisher hatten sie noch keine Nachricht erhalten, aber sie würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Neben Nukritas hing eine große aus purem Gold gefertigte Glocke in Blütenform; in regelmäßigen Abständen waren Edelsteine von verschiedenen Farben hineingearbeitet worden, die gemeinsam das Farbmuster ihrer Kirche wiedergaben und der Lichtritter war immer noch beeindruckt von der Handwerkskunst der Glocke. Filigrane Ziselierungen befanden sich auf ihrer Oberfläche und zeigten die Götter in ihren verschiedensten Formen. Nukritas sah zu Vojin als Mensch in seiner imposanten, goldenen Rüstung und anschließend als Gargoyle, der seine flammende Hellebarde hin und her schwang und seine Feinde zurücktrieb. Er war der Gott, dem er seine Treue geschworen und nie an seiner Entscheidung gezweifelt hatte. Ein Gott des Kampfes, des Stolzes, des Ehrgeizes, aber auch des Krieges. Nukritas hoffte, dass sie einen Krieg vermeiden konnten, doch er war sich unsicher, wie ihr weiteres Vorgehen aussehen wird. Doch eine alte Legende besagt, wenn die Götterglocke anfing zu läuten, dann riefen die Götter nach ihren Gläubigen zu einem bestimmten Zweck und ein jeder Paladin und Templer wäre dazu verpflichtet, diesem Ruf auch zu folgen. Bisher hatte niemand die Götterglocke gehört, doch es hieß, ihr Läuten schallte über das gesamte Land.

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