Ich liege im Bett, der unendliche Regen prasselt gegen die Fensterscheibe und der düstere Nebel lässt nicht viel Licht in mein Zimmer. Ich halte mein Kissen fest umklammert und die Tränen rollen noch immer unablässig über mein Gesicht. Vermissen ist ein Gefühl das sich nicht in Worte fassen lässt und das so unglaublich schmerzen kann. Vielleicht, denke ich, können wir uns wiedersehen, irgendwann. Aber eigentlich weiß mein Verstand längst, dass dies nie wieder geschehen wird. Jetzt leben wir in anderen Welten und das kleine Universum das wir uns einst teilten ist schwarz, dunkel und leer. Doch mein Herz schlägt noch immer höher, wenn wie so oft meine Gedanken zurückkehren, zu den schönsten Erinnerungen dieser Welt. Mein Herz scheint einfach nicht zu begreifen, dass diese Zeit nie wieder existieren kann, oder es ist genau deswegen so traurig und allein. Denn die Lücke in meinem Leben existiert, seit er nicht mehr da ist. Sie wird ausgefüllt durch eine Leere, die wie eine offene Wunde schmerzt. Je mehr ich mir eingestehe, dass ich ihn nie wieder sehen werde. Der Regen der seit Tagen auf das Dach der kleinen Mietwohnung trommelt, verstärkt mein monotones Leben und die traurige Stimmung, die mich weiter hinunter reist. Ich stehe auf und gehe in das Wohnzimmer, normalerweise ist es hier unter dem Dach freundlich und hell. Das weiße Sofa ist bequem und die vielen Pflanzen, die sonst immergrün die Wohnung verschönern sind vertrocknet. Auf dem Glastisch steht eine Vase mit einem schönen Blumenstrauß, an der ein eingerahmtes Foto lehnt. Die weiße Kerze die davor steht brennt schon lange nicht mehr. Ich sehe das Foto an, doch das lachende Gesicht verschwimmt in meinen Tränen, ich sinke auf die Knie und weine, wieso nur? Wieso musste er mir nur so früh genommen werden? Ich weine und der Regen trommelt auf das Dach, alleine die roten Rosen in der Vase scheinen zu lachen. Ich werde wütend und schlage auf den Glastisch, der Rahmen zittert, ich weine, er hat Rosen gehasst, er sagte immer sie seien zu perfekt, zu schön. Ich schleudere die Vase zu Boden, sie zersplittert. Der Boden ist bedeckt voller Scherben und dazwischen liegen die Rosen, rot wie Blut. Ich sitze da und starre auf das Foto, während mir die Tränen weiter übers Gesicht rollen. Doch nach einer Weile halte ich es in dieser kleinen, engen Wohnung einfach nicht mehr aus und krabble zu der Türe. Meine Hände bluten von den vielen Scherben die auf dem Boden herumliegen und meine Tränen tropfen auf die Fliesen und vermischen sich mit dem Wasser der Vase. Ich lehne mich an die Wand und ziehe mich hoch. Dann schlüpfe ich in einen großen Regenmantel. Er riecht noch sanft nach ihm und doch scheint der Regen und die vergangenen Wochen den Geruch schon fast verweht zu haben. Ich reiße die Türe auf, meine blutende Hand schmerzt entsetzlich, doch der Schmerz tut mir gut, er bringt mich zurück ins Hier und Jetzt und lässt die Erinnerungen verblassen. Ich gehe langsam die Treppe herunter, eine junge Frau kommt mir entgegen und grüßt mich. Ich starre sie an, als wäre sie von einer anderen Welt. Sie fragt mich, ob es mir gut ginge. Ich sage nichts und gehe weiter die Treppe herunter, bis ich unten stehe und die Türe öffne. Es ist kalt, ich zittere und trotzdem trete ich nach draußen in den Regen. Der Wind peitscht mir ins Gesicht und schmerzt auf meinen Lippen. Langsam gehe ich durch die engen Gassen von Saintes-Maries-de-la-mer. Nach einer Weile komme ich beim Meer an. Ich verlasse die bewohnten Gebiete und gehe zum Strand. Die Wellen rauschen mit einer unglaublichen Lautstärke an Land und brechen an den nahegelegenen Klippen. Der Regen prasselt auf die Dünen nieder, als hätte es Jahrzehnte nicht mehr geregnet und ich stehe da, alleine und verloren am Strand. Ich gehe, der nasse Sand klebt an an meinen Füssen und die dunklen Wolken kündigen ein gewaltiges Gewitter an. Vielleicht sollte ich lieber umkehren, denke ich und doch stampfe ich immer weiter den Strand entlang. Alle meine Kleider sind schon durchnässt, von den grossen, kalten Regentropfen, es donnert und plötzlich fallen auch kleine Hagelstücke auf mich nieder. Ich drehe mich um und gehe durch die Straßen zurück nach Saintes- Maries. Die Strassen sind leer, weil die Leute Zuhause in den trockenen Wohnungen sind. Ich sehe durch die Fenster hinein und sehe heile Familien, kleine Kinder die lachend auf dem Boden spielen. Großmütter die müde, aber glücklich auf den Sesseln sitzen und ihren Enkeln zusehen. Mütter und Väter unterhalten sich bei einem Glas französischen Wein. Vor einem Haus bleibe ich stehen. Ich bin müde und erschöpft. Die Tränen vermischen sich mit dem Regen. Ich sinke auf den Boden. Ich komme nicht mehr hoch, ich komme einfach nicht mehr hoch. Ich sitze da und weine. Ich schluchze und merke nicht einmal, wie ein grossgewachsener Mann die Türe des Hauses öffnet. "Ist alles in Ordnung?" Ich reagiere nicht.
"Mademoiselle?" Nun sehe ich ihn an, er steht im Regen und hält einen Regenschirm über mich, in der Haustüre steht ein kleines Mädchen und sieht ihn an.
"Daddy, was ist mit ihr?"
"Ich weiss es nicht meine Kleine", antwortet er.
"Es ist alles okay", sage ich und versuche aufzustehen, doch mein Körper reagiert langsam, er ist erschöpft und schwach und ich hasse ihn dafür. Aber plötzlich ist da eine Hand, sie hilft mir hoch, warme Augen lächeln mich an. Plötzlich Umarmen mich zwei kleine kindliche Ärmchen. Es ist das Mädchen, das sich an mich klammert, als würde die Welt davon abhängen und plötzlich spüre ich den Regen nicht mehr.
"Kommen Sie doch einen Augenblick mit hinein",
"Amelie," flüstere ich", mein Name ist Amelie." Das Mädchen nimmt meine Hand und geht mit mir hinein. Der Mann kommt hinter uns hinein und schliesst die Türe. Es ist warm und trotzdem zittere ich.
"Möchtest du ein paar trockene Kleider zum Anziehen?", fragt mich der Mann mit den blauen Augen, ich nicke dankbar. Ich ziehe meine Schuhe aus und das Mädchen, das mich noch immer an der Hand hält, geht mit mir die Treppe hinauf. Sie öffnet ein Zimmer, es ist ordentlich. Das Bett ist gemacht und ein weicher Teppich liegt auf dem Boden.
"Das ist Mamans Zimmer", sagt das kleine Mädchen, während sie aus einem großen Eichenholzschrank ein paar Hosen holt und einen grossen Wollpulli.
"Wo ist den deine Mutter, Mädchen?". Sie sieht mich mit großen Kulleraugen an, die so blau sind wie die von ihrem Vater.
"Papa sagt immer, sie sei in einer anderen Welt." Das Mädchen hält kurz inne. Er sagt sie schaue mir zu, wenn ich etwas gutes tue und dann würde sie lächeln. Er erzählt mir, sie hätte das schönste Lächeln der Welt und sie habe mich sehr lieb. Das Mädchen schaut mich an, "aber weisst du, ich habe Maman noch nie gesehen. Irgendwann hat Papa gesagt, wird sie mich in den Arm nehmen und sagen, dass sie meine Mutter sei. Das Mädchen gibt mir die Kleider.
"Du kannst dich hier umziehen, das würde Maman nicht stören." Das Mädchen lächelt und gibt mir die Kleider. Ich ziehe die Hose an, das T-Shirt und den großen, gestrickten Pullover und sogar Socken, die mir das Kind gegeben hat. Ich setzte mich auf das Bett, die Kleider riechen gut, denke ich mir, nach Rosen und nach Geborgenheit. Es klopft an meiner Türe und der Mann öffnet.
"Verzeih mir Amelie, ich habe mich noch nicht vorgestellt", sagt er. "Ich heiße Eric."
Er setzt sich neben mich aufs Bett.
"Ich habe eurem Gespräch vorher gelauscht. Die Mutter von Lucie starb bei ihrer Geburt. Es war nicht leicht, oft hatte ich das Gefühl, ich könnte Lucie niemals ein guter Vater sein. Doch sie war das Einzige, das ich hatte und ich versuchte sie mit all meiner Liebe groß zu ziehen."
Ich sehe ihn an. "Lucie ist ein großartiges Mädchen", flüstere ich. Und da ganz plötzlich, fange ich wieder zu weinen an. Wie von selber rollen all die Tränen über mein Gesicht und die ganze Trauer der letzten Wochen bricht über mich hinein. Sanft nimmt Eric mich in den Arm und obwohl ich ihn noch nie zuvor gesehen habe, fühle ich mich mit ihm so verbunden, als würde ich ihn schon ewig kennen.
"Du kennst ihn auch oder? Diesen unglaublichen Schmerz jemanden zu Verlieren", schluchzte ich. "Ja," haucht er in mein nasses Haar, "ich kenne ihn zu gut." Ich lächle. Für einen winzig kleinen Augenblick lächle ich und für einen winzigen Augenblick habe ich das Gefühl, als wäre alles okay. Als würde alles wieder gut werden.
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Der Regen von Saintes-Maries-de-la-Mer
Short StoryDer Regen ist Begleiter der Traurigkeit