Es war für sie ein Tag wie jeder andere: sich aus dem Bett und zur Schule quälen, mit ihren Eltern schweigend am Frühstückstisch und ihren Mitschülern leise murmelnd in der Mensa essen; zuhören, abschreiben, aufzeigen, über schlechte, alte Leute Witze lachen. Lehrer wie am Fließband, Stoff, Stoff, Stoff - „Ihr schreibt bald Abitur." Seit Wochen immer dieselbe Leier; ein Sprung in der Platte, immer gleich, immer gleich, immer gleich.
Dann im überfüllten Schulflur, umgeben vom Lärm der trampelnden, kichernden, kreischenden Menschen wäre sie am liebsten fortgelaufen. Die Masse der gesichtslosen Jugendlichen schubste, drängelte, rempelte, schrie. Sie schwamm mit. Gelenkt, getrieben, genervt.
Und dann lief er für einen kurzen Moment im Gleichschritt neben ihr und machte den Unterschied.
Ohne sie anzusehen, fand sein kleiner Finger den ihren, verhakte sie beide für die Dauer eines Wimpernschlags miteinander. Hauchzarte Wärme für einen winzigen Augenblick. Der ganze Lärm in den Fluren verklang, trat in den Hintergrund, verlor an Bedeutung, obwohl er sie Augenblicke zuvor noch zu überwältigen gedroht hatte. Das einzige Geräusch, dass sie hören konnte, das einzige Geräusch was zählte, war das Flüstern ihrer Finger. Elektrische Impulse, die durch ihren Körper schossen, ihr Herz hüpfen und ihre Haut brennen ließen. Noah. Frieden für ihre Seele.
Zu schnell war der Augenblick vorbei. Kein Lächeln, kein Abschied. Er bog nach links ab, sprintete die Treppen herunter in den zweiten Flur. Als nächstes hatte er Sport, sie musste in den Klassenraum zu einer weiteren Stunde Mathematik, die die Zeit wieder unendlich dehnen würde; die das Einbrechen der Dämmerung am Nachmittag herauszögern würde, bis sie es nicht mehr würde aushalten können. Ob die Mathematiklehrer in ihren beigen Pullundern wussten, welche Macht sie im Klassenraum hatten? Dr Strange würde sicherlich vor Neid erblassen.
Sie zwang sich ihm nicht hinterher zu sehen, nicht zu schmunzeln; konzentrierte sich auf die verblassende, fremde Wärme, die ihren kleinen Finger für diesen unwirklichen Augenblick umfangen gehalten hatte. Das Lächeln bahnte sich ungefragt, unaufhaltsam einen Weg auf ihre Lippen und sie verbarg ihr Gesicht in ihrem dicken, rosafarbenen Schal.
„Analysis macht die Hälfte dessen aus, was ihr für das Abitur wissen müsst." Natürlich, natürlich, sie wussten es mittlerweile. Stoisch gelassen, gelangweilt und müde saß sie die Zeit in Mathematik ab, bis sie endlich - endlich - die alten Mauern, zu dick um gescheites WLAN zu ermöglichen, rissig und verwittert, verlassen durfte.
Angerempelt. „Entschuldige bitte." Ein Ellenbogen in ihren Rippen, eine unachtsam über die Schulter geworfene Tasche rammte ihren Arm. Mehr gemurmelte Entschuldigungen. Verabschiedungen, hastig hingeworfene Erklärungen, warum man unhöflich war. Eile, Hast, der Bus! Der Bus!
Ihr dröhnte der Kopf. Die Geräuschkulisse war unerträglich. Sie schwoll mit dem letzten Klingeln jeden Tag um ein Vielfaches an. Gezügelt, gezähmt bis zu dem Augenblick in dem die Freiheit dröhnend und blechern immer gleich verkündet wurde.
Vor der Schule wartete ungeduldig ihre große Schwester. An der Hand ihre kleine Nichte. Den Buggy neben sich. „Es tut mir leid Maja, ich bin spät dran. Sie hat geschlafen - zu kurz - , gegessen - zu wenig. Alles was du brauchst ist im Rucksack, ich muss los." Ein dicker Schmatzer für das Kind, ein gehauchtes Bussi für ihre kleine Schwester, dann saß sie schon im Auto, winkte, war weg.
Lächelnd ging sie in die Hocke, öffnete ihre Arme und ihre zweijährige Nichte warf sich hinein. Tief atmete sie den einzigartigen Geruch - eine Mischung aus Waschmittel und Träumen - ein und entspannte sich sofort. Die dicken Ärmchen umklammerten ihren Hals und ein feuchter Schmatzer landete zielgenau auf ihrer Wange. „Tante Maja lieb", murmelte die Kurze an ihre Schulter gelehnt. Ihr gelang die Aussprache des Buchstaben J noch nicht, so dass ihr Name aus dem Kindermund wahlweise wie Maka, Masa oder auch Maha klang, aber das störte sie nicht. „Ich hab dich auch lieb, Krümmel."
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Kurz(e)Geschichten
Short Story„Es war für sie ein Tag wie jeder andere: sich aus dem Bett und zur Schule quälen, mit ihren Eltern schweigend am Frühstückstisch und ihren Mitschülern leise murmelnd in der Mensa essen; zuhören, abschreiben, aufzeigen, über schlechte, alte Leute Wi...