Lia, das sieht bezaubernd aus!" Maeva zog ihre zarte Nichte stürmisch zu ihr hinunter in ihre Arme. „Kind, du hast wirklich Talent." Sie drückte ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange, was Lia mit einem schüchternen Lächeln quittierte. In dem Arrangement steckte ihr ganzes Herzblut, denn sie wusste, dass es das letzte Mal sein könnte.
„Danke, Tante Mae", flüsterte Lia und stellte sich anschließend wieder aufrecht hin. „Bist du wirklich zufrieden? Ich kann es auch noch einmal ändern." Statt einer Antwort tätschelte Maeva ihre Hand und schüttelte den Kopf. Ihr Kopfschütteln galt zum einen dem Umstand, dass der Marktstand für den jährlichen Bauernweihnachtsmarkt im Rahmen der Feierlichkeiten der Vorweihnachtszeit ihres Dorfs keinerlei Änderungen bedurfte, da das liebevolle Arrangement der unterschiedlichen Wollprodukte, die dekorativ verteilten Adventskränze, die letzten Kürbisse aus der diesjährigen Ernte und die wunderschönen, großen Amaryllis einfach perfekt in Szene gesetzt waren. Zum anderen schüttelte sie den Kopf über das fehlende Selbstvertrauen und die mangelnde Selbstsicherheit ihrer Nichte. Wieso konnte oder wollte das Mädchen nicht sehen, dass sie etwas sehr gut gemacht hatte?
Seufzend löste Maeva die Bremsen ihres Rollstuhls und fasste nach den Greifreifen. Flink drehte sie den Stuhl und rollte zurück zu ihrem Mann Elias, der mit dem Bulli wenige Meter weiter auf sie wartete. Nickend grüßte sie Paul und Sabine, die den Stand zu ihrer Linken mit den Erzeugnissen ihrer Bienenvölker dekorierten und winkte Alexander, dem das größte Gehöft im Dorf gehörte, zu, der eine riesige Plüschkuh mit Weihnachtsmütze neben seinen Molkereiprodukte-Stand zerrte.
„Brauchst du noch etwas, Lia?" Während Elias Maeva sanft aus dem Stuhl hob, sie auf seine Arme nahm und zur Beifahrerseite des orangeroten Wagens trug, wo er seine Frau vorsichtig auf den Sitz gleiten ließ, lächelte er Lia freundlich zu. Sie beobachtete ebenfalls lächelnd, wie Elias die Stirn ihrer Tante küsste, bevor er die Tür zuschlug und den Rollstuhl in den Kofferraum hievte. Ihre Eltern gingen nie so miteinander um. Anfangs hatte Lia noch geglaubt, dass es daran lag, dass ihre Mutter zehn Jahre älter war als ihre kleine Schwester und damit irgendwie erwachsener, aber mittlerweile wusste sie es besser. Ihre Tante und ihr Onkel waren einfach gute Menschen und sie liebten einander sehr, obwohl sie es nicht leicht hatten. Sie waren seit der sechsten Klasse zusammen und wussten immer, dass sie zusammen alt werden würden.
Mit Anfang zwanzig erkrankte Maeva dann an Multipler Sklerose und lebte nun seit fünfzehn Jahren mit dieser Krankheit. Sie hatte viele gute Jahre gehabt, aber in letzter Zeit nahmen die Beschwerden immer mehr zu und die Phasen des Stillstands wurden immer kürzer. Dennoch waren sie immer gut gelaunt und liebevoll mit sich und anderen. Es beeindruckte Lia sehr, dass beide nicht mit diesem Schicksal zu hadern schienen, sondern dass es ihnen gelang immer positiv zu sein und alles so zu nehmen, wie es kam. Sie wünschte, dass sie das ebenfalls könnte.„Ich bin in zwei Stunden zurück, meine Kleine." Elias holte die alte Holzkasse aus dem Wagen und drückte sie Lia in die Hand. „Wenn etwas ist, kannst du mich anrufen oder Alexander hilft dir." Sie nickte. Das hatten sie bereits gefühlte hundert Mal durchgesprochen, seit sie angeboten hatte am Stand auszuhelfen, damit Elias seine Frau zur Therapie ins Krankenhaus bringen konnte. Die Schübe kamen unangekündigt und ungefragt, sie richteten sich leider nicht nach einem Zeitplan und waren dieses Jahr auf das Erntedankfest gefallen, was ihrer Tante das Herz gebrochen hatte, denn sie liebte den Markt und den Trubel darum herum sehr.
„Ich schaffe das schon, Onkel Elias. Fahr du bloß vorsichtig und stresse dich nicht. Der Stand ist fertig, ich kenne alle Preise. Wenn der Markt in einer halben Stunde öffnet, wird der Ansturm nicht so riesig sein, dass ich das nicht bewältigen könnte. Du weißt ja, dass es erst um den späten Nachmittag herum voller wird." Sie hoffte inständig zuversichtlicher zu klingen, als sie es war. Allein der Gedanke daran mit lauter fremden Menschen reden zu müssen, trieb ihr den kalten Schweiß auf die Stirn. Smalltalk gehörte überhaupt nicht zu ihren hervorstechenden Fähigkeiten. „Nun fahrt schon." Schnell winkte sie den beiden zu und ging dann die wenigen Meter zurück zum Stand vor dem Sabine stand und diesen fotografierte.
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Kurz(e)Geschichten
Short Story„Es war für sie ein Tag wie jeder andere: sich aus dem Bett und zur Schule quälen, mit ihren Eltern schweigend am Frühstückstisch und ihren Mitschülern leise murmelnd in der Mensa essen; zuhören, abschreiben, aufzeigen, über schlechte, alte Leute Wi...