1. Joleens Vorgeschichte

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Morgen ist es wieder soweit. Morgen gehen die Sommerferien in Hessen vorbei, und die Schule fängt an. Morgen kommt die Gymnasiastin Joleen Adler aus Stadtallendorf in ihre alte gute Klasse 9c. Morgen sieht sie wieder ihren Schwarm Sebastian, von dem sie sowieso keine Aufmerksamkeit bekommt. Morgen hat sie laut dem Online-Stundenplan Klassenstunde - und Geschichte bei einem gewissen "DHB".
"DHB"? Wer könnte das wohl sein? Joleen schaute kurz auf die Kollegiumliste auf der Webseite ihrer Schule. Hinter der Abbreviatur "DHB" verbarg sich der Name "Herr Deichbrand" - so wie ein Musik-Festival. Jedoch unterrichtete er kein Musik, sondern Geschichte und Sport. Joleen hatte diesen Namen schon oft gehört; sie wusste bloß nicht, wer das war. Vielleicht kannte sie diesen Lehrer vom Sehen, aber sie wusste nicht, dass er Herr Deichbrand hieß. Sie hoffte aber, dass er vielleicht besser war, als ihr alter Geschichtslehrer.
Joleen hasste Geschichte. Über alles. Nicht nur aus dem Grund, dass dieses Fach sie gar nicht interessierte. Früher hatte ihre Klasse Herrn Alman in Geschichte, und er war ein Tyrann. Er beleidigte seine Schüler dauernd, kassierte ihre Handys über das lange Wochenende ein oder bewarf die Schüler sogar mit kleinen Gegenständen so wie Kreide oder Radiergummis. Zwei Jahre lang musste Joleens Klasse ihn aushalten, bis er am Ende der 8. Klasse in Rente ging. Die Klasse freute sich damals so extrem, dass sie nachher deswegen eine Party schmiss.
Selbstverständlich hatte Joleen eine Fünf in Geschichte. Herr Alman konnte das Mädchen nicht leiden, weil sie sich nie im Unterricht meldete und weil sie manchmal am Handy war. Er nannte sie immer "Bonzentochter" oder "hochnäsige Zicke", nur weil sie immer stark geschminkt war. Eigentlich traf weder das Eine noch das Andere auf Joleen zu. Ihre Mutter, ihre einzige Erziehungsberechtigte, war definitiv nicht reich. Und hochnäsig oder zickig war Joleen auch nicht. Ganz im Gegenteil, sie war zwar nett und hilfsbereit, aber extrem schüchtern. Die Fünfzehnjährige lächelte fast nie und sie redete sehr leise. Ihre Klasse hielt sie deshalb für merkwürdig. Sie hatte keine richtigen Freunde, mit denen sie etwas unternehmen und denen sie alles anvertrauen konnte. In ihrer Clique war sie nur eine Mitläuferin, ein Geist, ein Schatten. Oft war sie aber auch alleine in den Pausen, sie saß auf dem Flur und las Comics. Oft wurde Joleen ausgeschlossen, weil sie anders war und weil sie andere Hobbys und Interessen hatte. Das Leben von ihren Mitschülerinnen drehte sich um Partys, Alkohol, Shisha und Jungs. Und Joleen? Sie saß stundenlang in ihrem Zimmer, las oder malte Comics, schaute Serien, spielte Klavier und sang auch ab und zu. Sie verabredete sich nie mit Freunden. Und einen festen Freund hatte sie auch noch nie.
Dagegen schwärmte sie schon seit vier Jahren von ihrem Mitschüler Sebastian Fischer, genannt Sebaste. Die beiden lernten sich am ersten Schultag in der fünften Klasse kennen, und Joleen verguckte sich damals sofort in Sebaste. Leider ignorierte er sie komplett, im Gegensatz zu den anderen Mädels aus der Klasse, mit denen er eng befreundet war. Er unternahm immer etwas mit den anderen Mädels aus der Klasse, aber nicht mit Joleen. Deswegen verstand sie nicht, was mit ihr falsch war.
Oft versuchte sie, sich für Sebastian zu verändern, damit er endlich ein Auge auf sie warf. Wegen Sebastian fing sie an, sich zu schminken. Wegen Sebastian fing sie an, seine Lieblingsserie "Der Prinz von Bel-Air" zu schauen (und die Serie gefiel ihr sogar). Wegen Sebastian versuchte sie mehrmals, abzunehmen, was ihr leider immer misslang. Und leider war alles erfolglos - Sebastian bemerkte Joleen einfach nie! Er wusste nicht mal, dass sie Joleen Janice Adler hieß - obwohl er sie schon seit der fünften Klasse kannte! Vier Jahre vergingen, doch es hatte sich nichts geändert - Joleen schwärmte immer noch von Sebastian, obwohl sie wusste, dass sie nie im Leben mit ihm zusammenkommen würde.
...Und nun saß Joleen wie gewohnt in ihrem Zimmer und dachte an Sebaste. An seine schönen blauen Augen, an sein süßes Lächeln, an seinen Humor... Nein, aus ihr und Sebaste konnte einfach nichts werden. Joleen fühlte sich viel zu uncool, viel zu blöd, viel zu altmodisch und viel zu depressiv für ihn. Nein, Joleen hatte zwar keine Depressionen, aber sie lächelte nie und redete nie. Und sie traute sich definitiv nicht, Sebastian endlich anzusprechen.
Joleen lebte in einer armen und ziemlich schlechten Familie. Ihre Mutter hieß Marion und war früher eine ganz normale Frau aus Stadtallendorf. Ihr Vater hieß Connor Darwin, er kam aus Amerika und war ein Hollywood-Stuntman. Er konnte echt coole Tricks machen. Joleens Eltern lernten sich in Hollywood kennen, als Marion dort Urlaub machte und als Connor dort mit seiner Stuntman-Karriere anfing. Connor zog nach drei Monaten nach Stadtallendorf zu seiner Frau Marion, dann kauften sie dort ein Haus zusammen, aber er hörte trotzdem nicht auf mit seiner Karriere.
Anderthalb Jahre später kam Joleen zur Welt. Während Joleens Mutter sich nicht viel um ihre kleine Tochter kümmerte, tat ihr Vater wirklich alles für sie. Er verbrachte die meiste Zeit mit Joleen und er hat sie schon als kleines Baby nach Hollywood gefahren. Joleen mochte ihren Vater mehr als ihre Mutter, weil er ein interessanteres Leben hatte und weil er sich mehr Zeit für Joleen nahm. Das machte Marion eifersüchtig und sie fing an zu trinken. Das ging so weit, bis sie für zwei Jahre in der Entzugsklinik landete, als Joleen zehn war.
Diese zwei Jahre waren die besten zwei Jahre in Joleens Leben. Connor nahm extra wegen seiner Tochter für diese zwei Jahre Pause, damit er sich um sie kümmern konnte. Joleen und Connor machten jeden Tag einen Ausflug irgendwohin, sie waren jede Ferien in Amerika und hatten eine dort riesige Menge Spaß. Sie wurden in diesen zwei Jahren wie allerbeste Freunde, nur mit einem großen Altersunterschied. Außerdem war Connor eine Bezugsperson für Joleen: Wenn es ihr schlecht ging und sie jemanden zum Reden und Ausheulen brauchte, war er immer, wirklich immer für sie da, im Gegensatz zu ihrer Mutter. Dank ihres Vaters ist Joleen ein Fan von Marvel geworden, weil ihr Vater in ein Paar Marvel-Filmen als Stuntman gespielt hat. Er kaufte auch viele Marvel-Comics für Joleen. Inzwischen lernte sie auch selber, Comics zu malen.
Und das Wichtigste: Dank ihres Vaters gewann Joleen ein wenig Selbstbewusstsein, sie fühlte sich stärker und besser, weil sie von ihrem Vater sehr geliebt wurde, und sie hat endlich eine Entscheidung getroffen, was sie nach der Schule machen wollte: Sie wollte zu ihrem Vater nach Amerika ziehen und Comiczeichnerin werden.
Joleen dachte, ihr Leben sei wunderschön - aber alles änderte sich, als ihre Mutter wieder entlassen wurde. Ihre Mutter war total eifersüchtig auf Joleen, weil sie viel mehr Zeit mit ihrem Vater verbrachte, als mit ihr. Deshalb hat sie ihrer Tochter verboten, Kontakt mit ihm zu haben. Das wirkte sich auf Joleens körperlicher sowie mentaler Gesundheit negativ aus - sie wurde noch schüchterner und ängstlicher als vorher und sie wurde immer öfter krank.
Darauf folgte aber die nächste Katastrophe. In den Sommerferien, kurz vor ihrem 13. Geburtstag, durfte Joleen ausnahmsweise zusammen mit ihrem Vater nach Amerika fahren. Sie ahnte erst aber nicht, dass es ihr letzter Urlaub in Amerika sein würde.
Connor musste wieder bei den Dreharbeiten eines Filmes mitmachen und er nahm Joleen mit. In einer Szene musste er aus einem brennenden Gebäude springen, jedoch ist er erstickt und ohnmächtig geworden. Seine Kollegen riefen schon den Rettungswagen und die Feuerwehr, aber als sie ankamen, war es leider zu spät. Joleens Vater verbrannte direkt im brennenden Gebäude. Ein Paar Meter weiter stand Joleen entfernt und sie konnte nichts dagegen tun! Sie weinte stark und schrie, sie wurde beinahe hysterisch. Die Kollegen von Connor versuchten, sie zu beruhigen; später wurde sie zurück nach Deutschland geschickt. Joleen war am Boden zerstört, als sie wieder zuhause ankam. Und das Beste: das alles passierte ein Tag vor Joleens Geburtstag. Ihr dreizehnter Geburtstag war mit Abstand der schlimmste und der traurigste von allen.
Als Joleen zuhause ankam, bekam sie keine Unterstützung und nicht mal Liebe von ihrer Mutter. Im Gegensatz, ihre Mutter freute sich sogar. Sie hat Joleen auch verboten, zur Bestattung und zum Grab ihres Vaters nach Amerika zu fahren, weil "sie keine Kohle hatte" und weil "Connor eh ein Arschloch und ein Egoist war. Das Letztere hat Joleen besonders aggressiv gemacht. Wie erlaubte ihre Mutter sich überhaupt, so über Joleens Lieblingsmenschen zu reden, der sich seit ihrer Geburt und bis zu seinem Tod so liebevoll um sie gekümmert hatte!?
Die Egoistin war an dieser Stelle Joleens Mutter. Sie achtete nur auf sich selbst und sie kümmerte sich nie um Joleen. Nach ihrem Klinikaufenthalt hat sie leider immer noch nicht aufgehört zu trinken, aber wenigstens war ihre Alkoholsucht nicht so stark wie früher. Aber eine gute fürsorgliche Mutter war sie keineswegs. Ihr Alltag bestand aus Schlafen, Fernsehen, Rauchen, Bier und Tiefkühlpizza. Eine Arbeitsstelle hatte sie nicht und wollte sie auch nicht haben. Wie man schon ahnen konnte, lebten Joleen und ihre Mutter von Hartz IV, und Joleens Mutter gab das meiste Geld für Bier und Kippen aus. Joleen versteckte deshalb ein Teil des Geldes in ihrem Zimmer und in der 8. Klasse ging sie sogar arbeiten - sie verteilte Zeitungen in ihrem Gebiet. Denn Joleen hatte einen großen Traum - sie wollte in die USA fahren und den Grab ihres Vaters besuchen - was ihre Mutter ihr leider um alles in der Welt nicht erlaubte.
Nach dem Tod ihres Vaters hatte Joleen einfach niemanden. Ihre Mutter achtete nie auf sie, in der Schule hatte sie keine Freunde, die Lehrer waren auch ziemlich abweisend und merkten nicht, dass es ihr schlecht ging... Naja, da gab's noch die Tante Edna, die ältere Schwester von Joleens Mutter. Sie war ganz cool, witzig und lieb, aber sie lebte in Schweden und kam selten nach Deutschland.
Und nun sehnte sich Joleen wieder nach ihrem Vater. Warum ist er gestorben? Warum ausgerechnet er? Er bedeutete doch so viel für sie... Joleen wünschte sich, sie könnte die Zeit zurückdrehen, und zwar auf diesen einen Tag, wo ihr Vater gestorben ist. Sie wünschte sich, dass ihr Vater einfach aus diesem Gebäude springen würde - dann hätte er es ja hinter sich - und dann könnten sie am Tag danach Joleens Geburtstag feiern und dann zusammen wieder nach Deutschland fahren. Und dann, in den nächsten zwei Jahren, könnten Joleen und ihr Vater noch so viel Schönes zusammen erleben! Und heute wäre Joleen nicht alleine.
Joleen versank so tief in ihren Gedanken, dass sie gar nicht merkte, dass es schon 22 Uhr wurde. Sie sollte besser schlafen, denn morgen kam der erste Schultag, ein ganz großer Tag für sie.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 22, 2021 ⏰

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