Prolog

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Ich stehe lange vor meinem Schreibtisch. Mein Körper ist still, doch in meinem Kopf rast es. Gedanken und Erinnerungen wirbeln durcheinander, wie ein Schneesturm im tiefsten Winter. Ich atme tief durch. Wieder und wieder. Mein Blick ist fest auf diese eine Schublade gerichtet. Sie ist wichtig, so wichtig. Die Maserung des dunklen Holzes ist deutlich erkennbar, der Knauf sieht aus wie eine flachgedrückte Kugel. Langsam, ganz langsam, strecke ich meinen Finger danach aus. Dann meine Hand. Dann meinen Arm. Ich stoße die angestaute Luft aus und lege meine langen Finger um den Knauf.

Der rote Nagellack hebt sich dunkel von meiner hellen Haut und dem Holz ab und für einen Moment stockt mir der Atem. Rot. Warum rot? Habe ich nicht aufgepasst, als ich eine Farbe ausgesucht habe? Warum rot, warum jetzt? Meine Lippen beginnen zu zittern, aber ich beiße meine Zähne ganz fest zusammen und hebe entschlossen das Kinn. Ich ziehe leicht an dem Knauf und schon gleitet die Schublade auf, als hätte ich sie nicht so lange Zeit ignoriert. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich diese Schublade das letzte Mal geschlossen habe, an dem Abend, als - nein. Nein. Nicht jetzt. Ich presse meine Zähne so sehr zusammen, dass es fast wehtut.

Sie liegt in der Schublade, exakt so, wie ich sie an diesem Abend im Sommer zurückgelassen habe. Schwarz und elegant und so vertraut liegt sie da, das schwarz-rote Band chaotisch durcheinander geworfen, aber die Verschlusskappe ordentlich auf dem Objektiv befestigt. Als ich meine Hand bewege, bemerke ich, dass sie zittert. Ich halte die Luft an, greife mir die Kamera mit einer Hand und schlage mit der anderen laut die Schublade zu. Ich stoße die Luft aus. So schlimm war das doch gar nicht. Meine Augen sind so auf dieses schwarze Ding, das einmal mein Leben war, fixiert, dass ich kaum mitbekomme, wie mich meine Füße zu dem Bett in der Mitte meines Zimmers tragen. 

Ich nehme die Kappe ab und lege sie behutsam neben mich auf die schwarze Decke. Dann hebe ich mit der linken Hand die Kamera an, während ich die rechte auf den An/Aus-Schalter lege. Sein halbes Lächeln wird so breit, dass es von einem Ohr bis zum anderen reicht. „Wo der Schalter ist, mit dem du das Teil an machst, weißt du aber schon, ja?“ sagt er amüsiert und seine Augen funkeln. Ich blinzle heftig und atme tief ein und aus, als ich den Schalter umlege. Ich überprüfe kurz das Zimmer - mit einer großen Blendenöffnung dürfte das spärliche Licht, das vom Fenster hereinkommt noch reichen. Das Rädchen steht noch auf Av. Mit zitternden Fingern stelle ich die Blende auf 4,5. Als er kichert, spüre ich seinen heißen Atem auf meinem Nacken. Ich spüre seinen Oberkörper an meinem Rücken und seine Hände liegen auf meinen. Ich kann mich kaum konzentrieren, als er mir die Anweisungen ins Ohr flüstert und meine Hände führt.

Ich versuche vergeblich, den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken, als ich durch den Sucher schaue und mit meiner linken Hand den Ring am Objektiv drehe, bis das von mir anvisierte Schmuckkästchen scharf wird. „Erst halb runterdrücken und dann ganz.“ murmelt er leise, die Brauen zusammengezogen, wie immer, wenn er sich konzentriert. „Ich weiß. Ganz unerfahren bin ich auch nicht.“ sage ich in einem gespielt beleidigten Ton. Er grinst nur, ohne den Blick von dem Vogelhäuschen zu nehmen, das mein Motiv ist. Ich verdränge die Gedanken ein für alle Mal aus meinem Kopf und drücke den Auslöser. Langsam breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Endlich. Endlich wieder eine Kamera in der Hand, endlich wieder roter Nagellack ohne Tränen, endlich wieder mein Leben ohne Chaos. Endlich über ihn hinweg!

Fokus (Arbeitstitel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt