Bei den Mäusen

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Die meisten Menschen vergessen oft, ja, die meisten wissen es ja nicht einmal, dass Weihnachten schon lange gefeiert wird. Lange vor der Geschichte mit Adam und Eva. Lange vor den ersten Menschen. Lange, lange davor.
Es hat in einer kleinen Familie begonnen. Fünf Mäuse und viel Freude. Vor langer Zeit.
Heute, an diesem Weihnachtsabend, sah das anders, ziemlich anders aus.
Nur noch zwei Mäuse, keine Freude.
Ja, nicht einmal zwei Mäuse.
Frieda hockte allein in der Nische unter der Kellertreppe und wartete. Schon lange und immer noch.
Auf Karl, ihren Mann.
Von oben hörte sie Poltern, Schritte, Lachen, Gesang.
In sich spüre sie Angst.
Sie zog die Füße unter den Körper, machte sich noch ein bisschen kleiner. Und unbemerkt, in völliger Einsamkeit, tropfte eine runde Träne aus ihrem Auge und zerplatzte auf dem staubigen Boden.
Ihr Blick huschte von einer Seite zur anderen und schnell wieder auf die kleine Pfütze vor sich. Zu traurig war der Anblick.
Ein kahler Tannenzweig, ungeschmückt. Zertrampelte Buckeckern, zerrissenes Geschenkpapier. Nicht einmal Käse gab es. Nur eine vertrocknete Orangenschale lag ein Stück entfernt neben einem Karton.
Aber Weihnachten - das waren ja nicht bloß Geschenke und Essen.
Weihnachten - das war vor allem das Fest der Liebe und Güte.
Das hatte sie schon ganz früh gelernt.
Alle Mäuse taten das.
Noch eine Träne.

Ein Stockwerk über ihr tropfte auch eine bei Karl zu Boden. Röchelnd bewegte er sich vor, bewegte er sich zurück. Schmerz schoss seine Wirbelsäule nach oben und er gab auf. Atmen. Atmen. Lächeln.
Die Menschen hatten praktische Dinger bei sich. Kleine Platten, Handys nannten sie sie. Nachrichten konnte man auf ihnen verschicken. Hätte Karl auch so eins besessen, er hätte jetzt eine an Frieda tippen können. Dass sie sich einen neuen Mäuserich suchen konnte. Dass es ihm leid tat. Dass es zu Ende mit ihm ging. Der Bügel der Falle schnitt ihm in den Rücken, tief, tief in ihn hinein.
Vielleicht besser, dass er keins von diesen Handys besaß. Frieda musste nicht wissen, was passiert war.
,,Tut mir leid", krächzte er und atmete ein, wieder aus. Er zuckte zusammen, als da plötzlich Licht war. Ein Mensch, große Augen, eine Hand. Er schloss die Augen, weinte stumm. Das Ende, nicht mehr lange konnte es dauern. Der Schmerz umschloss sein Herz schon. Tränen fielen und er hätte sie weggewischt, wären seine Vorderpfoten nicht, wo sie waren - eingeklemmt und fast zerquetscht neben ihm.
Nur ein Stück Käse hatte er gewollt. Gesucht und gefunden.
Er roch Schweiß, roch Mensch. Spürte Finger. Dann löste sich der Bügel, der Druck ließ nach. Freiheit. Sein Herz sprang, er auch, er sprang los und in die Dunkelheit. In die Schatten.
Menschenlaute, Rufen.
Dann war er weg.
Im nächsten Moment wieder da.
Wieder die Laute und wieder das Rufen.
Ein gelbes Stück flog an ihm vorbei, die Klappe schloss sich, der Mensch entfernte sich.
Er schnüffelte. Gouda. Mittelalt. Würzig.
Die gleiche Sorte wie eben noch in der Falle, bloß größer. Viel größer.
Er näherte sich langsam, leise, vorsichtig.
Griff zu. Kein Schmerz, kein herabsausender Bügel.
Ein Geschenk. Als wäre die Freiheit das nicht schon gewesen.
Auf wackligen Beinen trug er das Stück davon, in sein karges Zuhause.
Da hatte jemand verstanden, was Weihnachten war.
Von einem Menschen, ja, von einem Menschen hätte er das gar nicht erwartet.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 29, 2020 ⏰

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