Flüstern

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1920 in Frankreich

Die Vorhänge wurden von dem starken Wind in die Luft geworfen. Sie tanzten und warfen wilde Schatten an die Wand. Ein Blitz erstrahlte und lies für einen Sekunde den ganzen Raum, mit all seinen alten Möbel im Zimmer erahnen. Niemand schien sich die Mühe zu machen, die großen Fenster zu schließen, die vom starken Unwetter wie verrückt zusammenstoßen.

Zu dem Donnern und dem Tropfen des Regens, gesellte sich ein neuer Unbekannter Ton. Jemand lief mit federnden Schritten auf das Zimmer zu. Die Türklinke wurde hinuntergedrückt und ein junges Mädchen betrat den Raum. Ihr Blick huschte zu den Fenstern, die weit offen standen.

"Oh Esmée, liebe Esmée!" flüsterte sie und lächelte. Mit einer Hand fuhr sie sich durchs Haar und lief mit schnellen Schritten durch den Raum. Vor den Fenstern blieb sie stehen und schaute in den Garten hinaus, der nur 1 m unter ihr lag. Der Wind zerte an ihrem roten Kleid und der Regen hatte sie augeblicklich durchnest. "Esmée!" rief sie hinaus. "Esmée wo bist du?" Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. In ihrem Blick lag etwas seltsames.

Plötzlich kletterte sie aus dem Fenster und sprang in das weiche Moos. Langsam lief sie über die dunkle Wiese. Verzweifelt und mit einem klagendem Blick, rief sie immer wieder den Namen, der wie von selbst über ihre Lippen kam. Hinter der großen Tanne blieb sie stehen und ging in die Knie. Vor ihr lag eine zierliche Kette, die eine silberne Krone als Anhänger hatte. Das Mädchen umschloss die Kette mit einer Hand und drückte sie an die Brust. Dazu summte sie eine Melodie.

"Du bist gegangen, ohne mich" klagte sie und schrie in den Sturm, "Warum bist du gegangen!" Doch der laute Donner übertönte ihre Rufe. Erneut schloss sie die Augen und zählte im Stillen bis 10. Mit einem unerklärlichen Blick, lief sie wieder auf die große Villa zu, die von dem starken Wind nur so ächzte.

Mit einem Sprung landete sie wieder in dem finsteren Zimmer. Hastig steuerte sie auf einen alten Schallplattenspieler zu, der augenblicklich das ganze Haus mit dramatischer Musik erfüllte. Sie strich sich ihr Kleid zurecht und lächelte. Mit einem zarten Nicken zu sich selbst, fing sie an zu tanzen. Jede außenstehe Person hätte spätestens jetzt schreiend den Raum verlassen, denn die Tänzerin legte so viel Kummer und Sehnsucht in den Tanz, das einem beim zusehen schwindelig werden konnte. "Esmée" keuchte sie und brachte gleichzeitig eine komplizierte Drehung zustande. "Du fehlst mir so" flüsterte das Mädchen. Mit der Höhepunkt der Musik, kehrte auch der seltsame Blick in ihren Augen zurück. Plötzlich riss sie sich im Tanz ihre Kette vom Leib und drückte sie ein letztes mal an sich. Dann warf die Gestalt, die zwei Ketten zu Boden und setzte ihren Tanz fort.

Der Sturm schien noch einmal all seine Kraft zusammeln und versetze die Villa ins Zittern.

Das Mädchen bekam von all dem nichts mit und tanzte weiter. Die großen Fenster, die immer noch weit offen standen, ließen den Wind ins Zimmer, der dramatisch Notenblätter in die Luft und auf den Boden wehte.

Plötzlich lief die zarte Gestalt, mit wehendem Haar auf die große alte Holztür zu, über die sie vor wenigen Minuten eingetreten war. Mit einem knarren öffnete sie sich. Hinter ihr lag ein stockdunkler Flur, in die das Mädchen ohne Zögern eintrat. Entlang des Flures waren vereinzelte Lichter, die ein schwaches Licht auf den Boden warfen. Hier hörte man das Rauschen und Donnern des Gewitters nur gedämpft und die breiten Holzdielen gaben die Wärme des Vortages ab. Mit hüpfendem Schritt durchquerte sie den Flur, den Kopf nach vorne gewant. "Ich werde euch jetzt alle zurück holen! Alle" lachte sie wie eine Verrückte und zog sich im gehen eine Jacke über. Die große eiserne Haustür hatte sie schnell erreicht, und ein letztes Mal legte das Haus eine schützende Hülle um sie.

Übermütig sprang die Gestalt auf das Gelände und lief mit schnellem Schritt die Treppenstufen hinunter. Doch bevor sie den festen Boden erreichen konnte, durchbrach ein dumpfer Schlag die Morgen Dämmerung. Erschrocken wollte sie zum Gartentorlaufen, doch es war zuspät. Mit einem scharfen Zischen viel die große Tanne auf den Moosboden und verdeckte mit ihren langen grünen Nadeln die winzige Gestalt, die von der Wucht des Baumes überwältigt wurde.

Der Sturm hatte nun aufgegeben zu wüten und eine seltsame Stille legte sich auf das Grundstück, nur die Schallplatte spielte, immer und immer wieder die gleichen Klänge...

BallerinaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt