Der sabbernde Stein

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Wütend knallt er die Tür zu. Er bleibt im Flur stehen und rauft sich verzweifelt die Haare. Das kann doch nicht wahr sein! Haltlos lässt er schließlich seine Arme sinken und ein langer Seufzer entfährt ihm.
Sie macht ihn so unfassbar wütend. Er könnte rasen vor Zorn. Wände eintreten und Häuser anzünden.
Nur weiß sie leider gar nichts davon.
"Sie" ist Inga. Seine Chefin. Sein Boss. Sein einziger Lichtblick in der momentan einfach unfassbar schwierigen Situation, in der er... sie... die ganze Firma gerade steckt.
Denn Inga ist nur die 2. Vorsitzende eines großen Unternehmens. Wäre sie nicht, mit all ihrem Engagement, ihrer Freude an der Arbeit, ihrem Lob und der Motivation, er hätte schon vor Monaten gekündigt. Nicht auszudenken, was DANN wohl passiert wäre.
Der Gedanke daran bereitet ihm Gänsehaut.
Denn eben bekam er mit, wie der einzige, der noch über Inga selbst gestellt war, schamlos seine Machtposition ausnutzte. Inga ausnutzte. Sie BEnutzte.
Ihm wird ganz schlecht dabei, als diese Bilder wieder an die Oberfläche schwimmen.

Er wollte nur kurz nach der Arbeit noch bei ihr vorbeischauen, um sie persönlich auf den aktuellsten Stand zu bringen. Er wusste, sie war daheim, also fuhr er sein Motorrad direkt auf den Hinterhof ihres Hauses. Sie hatte ihm irgendwann einmal erlaubt, es in dem Carport dort unterzubringen wenn er bei ihr war, damit es halbwegs vor Regen geschützt wäre. Voller Vorfreude stellte er also sein Bike ab, ließ aber bewusst sein Outfit an. Er wusste genau, dass sie die Lederkluft sexy fand, und ein paar verwirrte Schmetterlinge in seinem Bauch bekamen bestimmt bald ein Schleudertrauma vom vielen Kopfschütteln ob solcher Aktionen. Nicht, dass er bewusst darüber nachdachte... Aber er griff öfter zu dem Hemd, das sie mal mit einem Kompliment gewürdigt hatte, ließ seinen 3-Tage-Bart stehen (der ehrlicherweise eher das Produkt 3 Wochen mühsamen Züchtens war), trug das Lederarmband, über das sie mal den Fingern strich...

Ja, er mochte sie. Natürlich, herrjeh, wer denn nicht? Sie war energiegeladen, konnte das Beste aus einem rausholen, geizte nicht mit Lob und Komplimenten und meinte dabei jedes so ehrlich, dass man wachsen wollte vor lauter Stolz. Sie war klug, besonnen, konnte Kritik ab, war sportbegeistert, konnte wahnsinnig frech und schlagfertig sein. Sie war eine Powerfrau.

Und 10 Jahre älter als er. Das wollte er oft vergessen, denn welche Frau gibt sich schon freiwillig mit einem kleinen Jungen ab? Er war nur 2-3cm größer als sie, hatte kaum Lebenserfahrung und genau genommen auch überhaupt keine Ahnung, was er wollte - bis auf dieses eine Detail: Er wollte sie. Aber um sich das einzugestehen war er noch nicht bereit.

Etwas aufgeregt stand er also vor ihrem Haus und klingelte. Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür, und da stand sie: etwa 1,70m groß, sportlich, Sommersprossen, eine undefinierbare Augenfarbe (in ihrem Perso stand wirklich graugrünblau), ihre naturroten Haare, die zu Dreads gehäkelt waren, lagen offen auf ihren Schultern. In der einen Hand trug sie ihre obligatorische Kaffeetasse, zwischen Schulter und Ohr klemmte ihr Handy, hinter dem anderen Ohr ein Stift.
Ohne aufzuhören mit dem Telefon zu reden winkte sie ihn herein und schloss dann hinter ihm wieder die Tür. Sie machte wedelnde Zeichen Richtung Wohnzimmer und verschwand dann auch darin, während er seine Bikerjacke auszog und die Schuhe abstreifte. Er kannte sich gut genug aus, die kleine Tür zur Garderobe zu öffnen und seine Klamotten dort unterzubringen, dann folgte er ihr ins Wohnzimmer. Sie stand mit dem Rücken zu ihm am bodentiefen Fenster, und er erkannte die verräterische Spannung ihrer Schultern. War wohl kein einfaches Telefonat. Und wenn es für sie schon nicht einfach war, würde es für den armen Menschen am anderen Ende wohl mindestens doppelt so schwer sein.

Leise lächelnd über diesen Gedanken ließ er sich auf ihr Sofa sinken und suchte in seinem Handy schonmal nach der Email, über die er mit ihr sprechen musste. Es war eigentlich nichts wichtiges, und es hätte wohl auch gereicht, ihr diese Mail einfach weiterzuleiten oder sie anzurufen... Aber er sah sie nunmal gern.

Ihr Knurren ließ ihn aufblicken.
"Das war wieder Strauch. Das dritte Mal heute! Hat der keine anderen Hobbies?", fluchte sie, böse auf ihr Telefon starrend, als wäre selbiges Schuld an ungewollten Ratschlägen alter Männer. Er schmunzelte. "Dir auch 'Hallo', Inga!" frotzelte er.
Amüsiert funkelte sie ihn kurz an, dann plumpste sie ebenfalls auf das Sofa. Genervt ließ sie sich mit dem Rücken in die Kissen fallen und schloss die Augen. Seine Blicke wanderten von ihrem Gesicht über ihren Hals zu... 'STOP' bellte er sich in Gedanken an. 'So einer bist du doch nicht!'

Aber verdammt, sie war wirklich schön. Früher hat sie sogar mal gemodelt, für eine Parfümmarke, europaweit war ihr Gesicht zu sehen. Das hat er bei seiner eingehenden Recherche über sie herausgefunden, von selbst würde sie wohl soetwas nie erzählen.
Und nein, er war kein Stalker (hoffte er), er war nur, äh, interessiert... Oder sowas. Unmerklich schüttelte er den Kopf, wo waren denn nur seine Gedanken? Es passierte immer öfter in ihrer Gegenwart, dass er das Gefühl hatte, sein Abi an der Haustür abzugeben und nicht viel mehr als ein sabbernder Idiot mit dem IQ eines Steins zu sein.

"Was wollte Strauch?" fragte er nun, vor allem, um auf andere Gedanken zu kommen. Er beobachtete, wie ihre Kiefermuskeln anfingen zu mahlen und die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen entstand, bei der er froh war, dass sie noch nicht ihm selbst gegolten hatte.
"Nichts wichtiges" presste sie hervor, und es war klar, dass sie log. Aber warum? Wenn sie anderer Meinung war als ihr Chef sprach sie doch nornalerweise offen und ehrlich darüber, um einen Kompromiss zu finden. Diesmal nicht? Leicht beunruhigt nahm er zur Kenntnis, dass sie wieder ihre Schultern hochzog und sich verspannte. Das hatte sie vorher in seiner Gegenwart noch nie getan. Was war nur los?

"Wie kann ich dir helfen, Claas?" sprach sie ihn nun direkt an, offenkundig das Thema wechseln wollend. Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch, ließ ihr aber diesen Ausweg. Er würde schon noch rausfinden, was los war - und wie er ihr dann helfen konnte. Denn dass sie Hilfe brauchte war nur zu offensichtlich.

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