Prolog

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Teil 1
Anfang

"Ich konnte die Vögel draußen hören. Es war, als hätten sie meine Trauer gespürt. In diesem Bett. Diesem Leben. Als würden sie alles hören und auch nichts. Es war der Geburtstag meiner Schwester. Um genau zu sein ihr sechzehnter, die Zeit, wo frau in diesem Haushalt als Geschlechtsreif gilt. Wie Vater immer sagte: "Die Gefahr ist nun niedriger bei der Geburt zu sterben." Wirklich aufregend. An diesem Tag gab es viel Trubel am Tisch. Alle waren neugierig. Und in dieser Zeit war Klatsch und Tratsch mit an oberster Stelle, (besonders bei der weiblichen Gattung) genauso hier. Und bei fünfzehn Mädchen (sieben weitere schon verheiratet und aus dem Haus), wird es sehr laut im Raum. Ich, mit meinen Honigblonden Haar und einem leichten rot Stich. Ich, die wie immer am hintersten Platz von Vater sitzt. Die mit ihrem dunkelblauen Auge und ihrem dunkelbraunen alles und jeden beobachtet. Und ich, die eigentlich gar nicht in diese Familie gehört und es nie tat. Und immer wenn ich ihn sah, erinnerte es mich daran. Ich weiß nicht viel von meinen wahren Eltern und das würde ich wohl auch nie wirklich, aber ich kannte ihn, ich wusste, was er und wie er war. Wie wenig ich ihm Wert war, denn es kam auch immer zu einem bestimmten Gespräch an solchen Tagen und immer hoffte ich, dass er es dieses Jahr sein ließe. Aber das tat er nicht. "Ihr fragt euch bestimmt schon, wer der Bräutigam ist, Mädchen", fing er an. Alle fingen zu schreien an. Vor Aufregung und Freude natürlich. Unsere Schwester schien rot zu werden. Aber sie sah auch nicht sehr begeistert aus. Ich wäre aber auch nicht sonderlich begeistert an ihrer Stelle (und mir sollte es nach diesem Mann irgendwann genauso gehen). Sie kennt ihren Mann -ich korrigiere: ihren Zukünftigen Mann- nicht. Sie würde es auch erst bei der Hochzeit erfahren. Und dann weiß sie auch den Rest erst. Wo sie wohnen wird. Wie ihre neue Anrede lautet. Ob sie ins Ausland muss. Ob sie ein ganz reichen oder mittelreichen Mann haben wird. Natürlich kommt da noch einiges mehr dazu, aber ich werde lieber keine Zeit dafür verschwenden. Sie selber darf zu nichts etwas sagen. Soll es Honigkuchen geben oder Schokoladenkuchen? Sollen die Blumenmädchen geflochtene Zöpfe oder einfache Locken tragen? Wer soll neben wem sitzen? Egal, sie darf das ja eh nicht entscheiden. Sie darf sich nicht mal ihr eigenes Hochzeitskleid aussuchen. "Da müsst ihr wohl leider noch etwas warten.", sagte er weiter und lächelte uns alle an. Ich verdrehte nur meine Augen. Die anderen seufsten enttäuscht. Unsere Schwester brummte etwas, verschränkte dann ihre Arme und ließ sich gegen ihren Stuhl fallen. Ihre dunklen Locken wirbelten dabei zurück. Johanna konnte einem ja schon irgendwie leid tun. Aber ich konnte einem definitiv mehr leid tun. "Everilda, Mädchen. Keine Sorge, dir finden wir auch jemanden. Er wird zwar nicht den Stand haben, den deine Schwestern sonst haben, aber du kommst ursprünglich ja auch nicht von so Hoher Geburt", konnte ich ihn sagen hören. Er wollte mich schon verheiraten. Aber das hatte nicht so funktioniert, als raus kam, dass ich nur adoptiert wurde. Ich konnte sie streiten hören. Alles geht um die Herkunft. Den Stand. Den Namen. Das Geschlecht. Nicht um Liebe. Nicht um die Persönlichkeit. Und auch nicht um das Können. Ich will hier einfach nur raus. Raus aus diesem Haus. Raus aus diesem Leben. Weg davon. Weg von all dem. Und besonders weg von ihm. Ich sah ihn mit einem finsteren Gesichtsausdruck an. Meine Augen so eng zusammen gekniffen, dass ich es nicht einmal merkte. Damals zumindest nicht. Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass ich es tat. Er sah mich nämlich ernst an, fasst böse, auch wenn es nur für einen Augenblick war. Er wollte etwas sagen, ich unterbrach ihn aber, bevor er auch nur ganz dazu kam, seinen widerlichen Mund zu öffnen: "Hör endlich auf das die ganze Zeit zu sagen! Jedes Jahr aufs neue! Ich kann es nicht mehr hören!" Ich schlug meine Hände auf den Tisch. Meine Tasse mit diesem roten Früchtetee fiel um und ergoss sich auf meinen Frühstücksteller. Es gab wie immer den selben Tee und das selbe Gebäck, die selben Früchte, egal, welche Jahreszeit. Ich hatte meinen Stuhl beim aufstehen geräuschvoll nach hinten geschoben. Bevor er darauf etwas erwidern konnte, stürmte ich schon aus dem großen Zimmer, mit diesen großen Fenstern, den Verzierungen an allen Wänden, dem Silbergeschirr in den Schränken, sowie dem Keramikgescheschirr zum Frühstück und zur Teezeit. Ich ging durch den Flur, vorbei an der Hausfrau, die den jüngsten und einzigen Sohn von Vater, in ihren Armen hielt. Mit seinen zwei Jahren nuggelte er sich noch an seinen kleinen Fingern. Er war süß. Hatte helle blonde Haare und grüne große Augen. Seine Mutter ist bei der Geburt gestorben. Nur weil Vater unbedingt einen Sohn wollte um seine Männlichkeit beweisen zu können und einen Erben zu haben. Seiner Meinung nach waren Frauen nichts wert, wie von vielen anderen Männern auch -wenn nicht, dann hat sogar jeder Mann diese Meinung, ich für meinen Teil kenne keinen Mann, der eine andere Meinung gegenüber Frauen hat. Sie hat so viele Mädchen bekommen. Bei Emma, der Jüngsten, wurde schon vor einer weiteren Geburt gewarnt, aber Vater wollte nicht hören. An diesem Tag gab es ein entsetzlichen Lärm. Alle hatten Angst um Mutter, aber Vater hat sich nur über sie beschwert, dass sie nicht so laut schreien sollte, dass er am arbeiten war und eine Geburt ja nicht so anstrengend und schlimm sein konnte, wenn sie vorher schon so viele hinter sich gebracht hatte. Ich hasse ihn. Er hat nicht ein bisschen Trauer gezeigt. Er war nur froh endlich einen Sohn bekommen zu haben. "Na wenigstens hat sie mal etwas Gutes geschafft, bevor sie starb", waren seine Worte, bei ihrem Begräbnis. Ich war so wütend. Ich wollte ihn schlagen mit meinen elf Jahren. Meine Fäuste hatte ich vor Wut geballt, dass mir die Hände zu bluten anfingen, weil sich meine Nägel in die Haut gruben. Meine Knochen blitzten weiß durch die dünne Haut, als gäbe es nur den Knochen und nicht mehr. Auf meine Lippe hatte ich mich gebissen. Und meine Augen waren zu Schlitzen geformt. Ich hörte auf zu weinen. Ich konnte keine Trauer mehr empfinde, so viel Hass empfand ich für diesen Mann. Ich habe ihm den Tod gewünscht. Und noch mehr. Qualen. Unerträgliche Qualen. Mehr als Mutter ertragen musste. Mehr als je eine Frau sonst ertragen musste. Damals habe ich ihn nicht geschlagen, weil ich von Charlotte zurück gehalten wurde. Charlotte. Sie ist meine Schwester. Meine beste und auch einzige Freundin. Sie wäre mir jetzt hinterher gerannt. Ich hatte es in ihrem besorgten Blick gesehen. Wie sie da neben Vater saß und zu mir sah. Sie wäre mir sofort gefolgt, aber sie hatte Angst. Angst vor Vater. Sie war seine Tochter -ein Mädchen, ein Mädchen, das nichts zu sagen hatte. Vierzehn, sowie ich. Aber ich machte mir nichts aus diesem Mann. Sollte er mich doch schlagen, wie er es sonst getan hätte. Charlotte, die mir ohne Strafe hinterher rennen hätte können, wenn sie nur ein Junge gewesen wäre. Ich hasse dieses Leben. Ich hasste es so sehr. Ich weiß, die Zeiten sind hart. Damals, wie heute. Ich sollte mich glücklich schätzen. Dass ich unter einem Dach lebte. Ein eigenes Bett hatte. Täglich gutes Essen und Trinken bekam. Schöne Kleider hatte. Dass ich nicht in der Gosse verrottete. Aber so war es nun mal. Ich fühlte mich so gefangen. Da war diese innere Leere, die nicht gehen wollte. Sie erdrückte mich. Ich rannte raus, in den Stall. Mein Pferd stand dort. Ich wusste bis vor kurzem nicht, dass es mir gehörte. Ich hatte es durch Zufall erfahren, dass es meinem Leiblichen Vater gehörte. Vater hatte es als seins ausgegeben, Jahre lang, obwohl es meins war. Ich war so wütend. Und er meinte nur: "Was regst du dich so auf? Du bist doch nur ein Mädchen, was willst du denn mit einem Pferd? Und dann auch noch so einem Guten?" Ich habe natürlich auf mein Eigentum bestanden und als Wiedergutmachung gefordert, dass er für Unterkunft und alles weitere aufkommt, bis ich meinen eigenen Haushalt führen würde. Er war nicht gerade begeistert darüber und meinte, dass ich keinen Haushalt gründen würde, nur weitergegeben werden würde. Ich bestand dennoch auf mein Pferd. Natürlich musste er einwilligen. Er hatte keine andere Wahl. Ich hatte ein paar Drohmittel. Damals ging ich zu ihm, wie ich es immer tat, wenn es mir schlecht ging -was keine Seltenheit war. Mit meinem Kopf an seinem gelehnt, streichte ich über sein weiches Fell. Ich sattelte ihn, zog mein Kleid etwas hoch, damit es mir nicht im Weg war, und sprang auf seinen Rücken. Im Männersitz wie immer. Deswegen gab es schon einige Beschwerden. Ein Mädchen hatte gefälligst im Damensitz zu reiten oder gar nicht! Aber wie meistens interessierten mich auch dort die Meinungen anderer nicht. Ich ritt in den Wald, der hinter dem großen Anwesen lag. Ich überquerte große Wiesen, feuerte den Schwarzen an, bis in den Wald rein. An diesem Tag fing leider ein Sturm an, von dem ich nichts merkte. Es war ein sonniger Tag, kaum Wolken am Himmel. Wie sollte ich da an einen Sturm denken? Besonders, da ich zu sehr damit beschäftigt war, meinen ganzen Frust von mir zu lassen. Ich ritt wie eine Wilde. Ich war schon eine große Strecke vom Anwesen entfernt, als es zu regnen anfing. Ich war auf einer Wiese. Sie war voll von Hügeln und kleinen Bergen. Es hatte erst leicht zu regnen begonnen, aber der Schutt kam schneller, als ich hätte zwinkern können. Davor dachte ich noch, dass ich es vielleicht zum Anwesen rechtzeitig schaffen könnte -oder zumindest noch rechtzeitig in den Wald kam, um etwas vor dem Regen geschütz zu sein. Schnell ritt ich los, aber der Schwarze rutschte aus. Das Gras der Wiese war durch den Regen so schnell nass und rutschig geworden, dass er nicht mal richtig stehen konnte. Ich ließ einen erschrockenen Schrei von mir, der nicht gerade leise war. Was wohl mein Glück war, was ich allerdings zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste. Der Schwarze versuchte Halt zu finden. Er stampfte auf den, mittlerweile matschigen, Boden. Immer wenn er dachte, dass er Halt gefunden hatte, rutschte er nur noch weiter ab. Es war so schlimm, dass er schon anfing in Panik zu geraten. Sein rabenschwarzes Fell hatte den Regen schon komplett aufgenommen. Ich hatte mich mittlerweile schon an seiner Mähne festgeklammert. Er war wild. Wobei, wild ist nicht das richtige Wort, aufgebracht, ja, er war aufgebracht. Der Regen war kalt und meine Finger wurden langsam taub. Ich hatte nur mein dünnes Kleid an und meine Stiefel. Ich durfte sie eigentlich nicht tragen. Ich hatte Damenschuhe zu tragen, aber unter diesen schrecklich langen Kleidern fielen sie eh niemanden auf. Meine langen Haare hatten sich auch bereits mit Wasser vollgesogen. Meine Lippen bebten und Zähne klapperten vor Kälte. Meine Sicht war durch den Regen verschwommen. Und dann kam es zu einem weiteren Rutsch, der dafür sorgte, dass der Schwarze mich vom Sattel warf. Ich konnte mich nicht mehr festhalten, ich hatte bereits kein Gefühl mehr in meinen Fingern. Ich hatte nicht mal Kraft zum schreien. Ich flog durch den Regen, spürte kaum eine Landung, da ich vom Matsch aufgefangen wurde, sah aber wie auch der Schwarze sich nicht länger halten ließ. Er war runter gekullert. Aber er stand schnell wieder auf und übersah mich.

Wo die Zeit beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt