Abby
Vor zehn Jahren
Es war Nacht der Wünsche.
Immer wenn bunte Lichter am Himmel explodierten und in einem Farbspiel aus Silber, Gold und Rot auseinanderstoben, durfte ich mir etwas wünschen.
Ich stand zwischen Mommy und Daddy, die die Arme umeinander gelegt hatten und voller Zuversicht einer neuen Zeit entgegenblickten. Eine Hand hatten sie jeweils auf meiner Schulter platziert, sodass wir zusammen einen Kreis bildeten. Einen Kreis, den man nicht durchbrechen konnte und der mindestens so hell strahlte wie die Kringel am Himmel.
Mommy kniete sich zu mir herunter und in ihren eisblauen Augen spiegelte sich das Funkeln von tausend Lichtern wider. Sie fuhr mit dem Daumen sanft über meine Wange und wischte die Schneeflocken weg, die meine Haut geküsst hatten.
Ich kicherte. »Das kitzelt.«
Mommy lächelte und verriet mir mit einem Zwinkern, dass es endlich so weit war. Sie nahm meine Hand, die ich fest umschloss. Dann hob ich den Kopf und atmete tief ein und aus. Ein Wölkchen bildete sich vor meinem Gesicht und verblasste im Schein der Lichter.
»Dieses Mal kann es gerne ein anderer Wunsch sein.« Daddy strubbelte mir durchs Haar. »Du hast eine endlose Auswahl.«
Ich bedankte mich im Stillen dafür, dass ich frei wählen durfte, aber griff so wie in den letzten Jahren wieder nach dem Wunsch, der am schönsten glitzerte.
»Prinzessin«, flüsterte ich mit geschlossenen Augen. »Prinzessin auf dem Eis.« Genauso wie Mommy, fügte ich in Gedanken hinzu.
Als ich die Augen wieder öffnete, nahm sie mich und Daddy an der Hand. In dem Moment spürte ich bereits, wie mein Wunsch seine Magie entfachte.
Danach gingen wir endlich aufs Eis. Kaum betrat Mommy es, war sie bereits von einer majestätischen Aura umgeben. Ihre Bewegungen waren weich und schön. Sie glitt über das gefrorene Wasser, als würde sie schweben. Und jedes Mal, wenn sie sich drehte, war es wie ein magischer Tanz, den ich nur aus Märchen kannte. Sie war die Beste von allen. Die Königin auf dem Eis.
Daddy half mir dabei, in kleinere Schuhe zu schlüpfen, die auch nicht so schön waren wie die von Mommy. Je fester er die weißen Bänder um meine Füße schnürte, umso vollständiger fühlte ich mich.
Dann stellte er sich auf und bot mir seinen Arm an. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Prinzessin?«
»Daddy! Nein!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin noch keine Prinzessin. Ich habe mich noch nicht verwandelt.«
»Entschuldigung, mein Schatz.« Er versuchte es erneut. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Fräulein?«
Ich nickte eifrig, griff nach seinem Arm und ließ mir von ihm auf die Tanzfläche helfen, wo auch andere Anwärterinnen auf den Thron bereits ihr Können unter Beweis stellten. Eine mit Zöpfen machte das schon so gut, dass ich für einen Moment fürchtete, sie würde mich in den Schatten stellen. Aber dann glitt Mommy an uns vorbei, sah mich an, mit einem Lächeln auf ihren Lippen, das versprach, dass ich die Einzige war, die ihr auf den herrschaftlichen Stuhl folgen durfte. Schließlich floss durch unsere Adern dasselbe Blut.
Sie flog über das gefrorene Wasser, verteilte bei jeder Drehung die Kristalle, die sich in ihren Haaren verfangen hatten, wie Glitzerstaub in der Luft. Jeder, an dem sie vorbeiglitt, war wie verzaubert, hielt an und hatte nur noch Augen für sie.
Auch Daddy war wie versteinert. Er hatte das Herz der Königin bereits vor Ewigkeiten gewonnen – obwohl er selbst ein Tölpel auf dem Eis war – und doch betrachtete er sie, als würde er ihre Magie zum ersten Mal erblicken.
Ich zog an seinem Arm, damit wir uns endlich in Bewegung setzen konnten. Meine ersten Schritte waren ungelenk und wacklig. Wie jeden Winter, wenn ich wieder in Kontakt mit der Kälte unter mir kam.
Ich streckte den Fuß und wollte nach rechts, rutschte aber weg. Daddy bewahrte mich vor dem Sturz, indem er mich im letzten Moment an sich zog.
»Langsamer«, sagte er, griff nach meiner anderen Hand und stand nun vor mir. Vorsichtig zog er mich nach vorne. »Schritt für Schritt.«
Ich nickte.
Schritt. Schritt. Schri... Rutsch!
Daddy zog mich hoch, ehe meine Knie auf dem Boden aufschlagen konnten. Aber eine Windböe sorgte dafür, dass mein Schal sich von meinem Hals löste.
Als Daddy mich losließ, um ihn festzuhalten, fürchtete ich jeden Moment wieder das Gleichgewicht zu verlieren, aber ich schaffte es, aufrecht stehen zu bleiben, was mich mit Stolz erfüllte.
Daddy bückte sich, um meinen Schal zu fassen zu kriegen, aber der Wind trug ihn davon. »Verflixt!«, fluchte er und jagte ihm nach. Trotz seiner festen Schuhe kam er nicht so schnell vorwärts, denn er musste immer wieder den anderen Kindern und Eltern ausweichen.
Ich seufzte leise und blickte wieder zu Mommy, die sich gerade in einer ganz anderen Welt befand. Immer, wenn sie ihre Augen schloss, hielt sie sich in einem Palast aus purem Eis auf und tanzte, bis ihr die Füße wehtaten.
Ich wollte nichts mehr, als auch an diesem Ort zu sein. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Und noch einen. Und noch einen. Dann schloss ich die Augen.
Ich konnte den kristallenen Palast sehen. Er war wunderschön und mit tausenden Diamanten in Form von klitzekleinen Schneeflocken bestückt. Durch die großen Fensterfronten erhaschte ich einen Blick auf Mommy, die ein elfenbeinfarbenes Kleid trug, das bei jeder Bewegung leise klingelte und Glitzer in die Luft stoben ließ. Auf ihrem Kopf trug sie eine unbeschreiblich schöne Krone aus hauchdünnem Eis.
Ich streckte mich ihr entgegen, weil ich Teil dieser einzigartigen Welt sein wollte, doch der Wind ließ mich taumeln und zerstörte meinen Traum aufs Neue.
Als ich die Augen wieder öffnete, pochte mein Po vor Schmerzen. Ich sah die Welt plötzlich von unten. Wie Daddy gerade meinen Schal zu fassen kriegte. Wie Mommy tanzte und tanzte und tanzte.
Ich winkelte mein Bein an, um wieder nach oben zu gelangen und weiter zu trainieren, aber ich schaffte es nicht. Egal, wie ich die Arme und Füße streckte, es gelang mir nicht mich aufzurichten, um so aufrecht wie eine Prinzessin zu stehen.
Mommy sah mich nicht und Daddy wurde auf dem Weg zu mir immer wieder von der Menge aufgehalten. Die Kälte kroch meine Haut hoch, schmerzte plötzlich so sehr, dass meine Lippen zu zittern begannen.
Aber dann war da plötzlich diese Hand.
Sie gehörte einem Jungen, der ganz normale Straßenschuhe trug. Er war wohl auch ein Tölpel wie Daddy. Ich nahm sie an und während er mich hochzog, blickte ich in seine kastanienbraunen Augen, die einen Hauch von Trauer in sich trugen. Vielleicht wäre er ja gerne ein Prinz.
»Wo sind deine Eisschuhe?«, fragte ich ihn.
»Zu Hause«, antwortete er. Die Zahnfee hatte ihn bereits besucht. Der rechte Eckzahn war weg und jetzt wuchs in der Lücke ein neuer.
»Wie lange machst du das schon?«, fragte er mich und deutete auf meine Füße.
»Drei Jahre.« Stolz reckte ich das Kinn, wie es sich für eine Prinzessin gehörte.
Seine Augen weiteten sich. »Wow, so lange schon.«
Ich nickte. »Ja, jedes Mal an Silvester, wenn wir Tante Stella besuchen, übe ich ganz viel.«
»Ich wünschte mir, ich wäre auch so gut wie du«, sagte er und schmollte ein wenig.
»So gut wie ich?«, wiederholte ich überrascht. »Aber ich bin doch nur das Mädchen auf dem Eis. Guck mal! Das da drüben ist meine Mommy. Sie ist die Königin.«
»Dann bist du eine Prinzessin?«
»Noch nicht, aber bald«, antwortete ich hoffnungsvoll.
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Girl on Ice [XXL-Leseprobe]
Romance**Auf Schlittschuhen ins Glück** Die siebzehnjährige Abby hat allem Anschein nach das perfekte Leben: Sie ist nicht nur eine begabte Eiskunstläuferin, sondern auch ein Social-Media-Star und wird von der ganzen Welt geliebt. Beim alljährlichen Winter...