harikoa

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Während wir essen, erzählt Henry von der Galerie und dem Anruf, den er heute bekommen hat. Ich lausche ihm gebannt und strahle jedes Mal mit ihm um die Wette, wenn er wieder verträumt vor sich hinstarrt und ungläubig den Kopf schüttelt.

„Bist du mir böse, wenn ich nachher noch ein Stündchen male?", fragt er plötzlich und ich runzele die Stirn. Normalerweise kuscheln Henry und ich abends gemeinsam auf meinem Sofa unter der Fleecedecke und wir schauen Dokumentationen oder eine Serie. Das ist meine liebste Zeit des Tages, abgesehen vom morgendlichen Aufwachen neben Henry oder wenn er im Bad neben mir auf den Fliesen liegt.

„Okay?", mache ich mit großen Augen.
„Nur eine Stunde", verspricht er. „Du kannst auch gern mitkommen und wir schlafen dort? Dann müsstest du nur das Tablet mitbringen, damit wir noch eine Folge schauen können."
„Und was ist mit morgen?", frage ich leise und in meinem Kopf beginnt wieder das Gedankenkarussell.

Seit Wochen habe ich Henrys Ostergeschenk geplant, habe mir genau überlegt, wie ich die Eier heimlich in unserer Wohnung verstecke, während er schläft. Habe mir ausgemalt, wie er kichernd durch die Wohnung trippelt und ein Geschenk nach dem anderen findet.

„Morgen?", kommt es von Henry und ich lasse mein Besteck laut auf meinen Teller fallen. Enttäuschung und Ernüchterung breiten sich wie eine bittere Welle in meinem Inneren aus und ich kann kaum atmen. Henry blickt mich verwirrt an, doch ich stehe langsam auf und schiebe den Stuhl mit der Rückseite meiner Beine zurück. Er macht ein quietschendes Geräusch auf den Fliesen.

„Maxwell?", höre ich Henrys Stimme gedämpft und ich weiß, dass er alarmiert ist.
„Ich. Lege mich kurz hin", presse ich hervor und drehe mich um, um ins Badezimmer zu gehen. Ich höre, wie Henrys Besteck auf dem Teller klappert und seine schnellen Schritte, als er mir nachläuft.

Henry kennt mich inzwischen so gut, dass er weiß, es ist keine gute Idee mich in diesem Moment anzufassen, also steht er nur neben mir im Türrahmen des Badezimmers und schaut dabei zu, wie ich mich bis auf meine Boxershorts ausziehe und auf die warmen Fliesen lege.

Meine Gedanken steigen wie unzählige Seifenblasen in meinem Kopf auf und platzen, sobald sie sich zu groß aufgebläht haben, nur um wenig später erneut aufzusteigen.

Habe ich Henry mit meinem Fehler im letzen Jahr die Freude an Ostern genommen? Rechnet er damit, dass er dieses Jahr wieder nur ein Geschenk von mir in die Hand gedrückt bekommt? Glaubt er, ich schenke dem Feiertag keine Bedeutung und habe gar kein Geschenk für ihn? Hat er Ostern sogar deshalb vergessen, damit seine Hoffnungen nicht wieder enttäuscht werden? Wird es bald mit Weihnachten und Geburtstagen auch so sein? Sucht er sich jemand anderen, der ihm die richtigen Geschenke auf die richtige Art und Weise macht?

„Hey", macht Henry sanft und als ich meine zusammengekniffenen Augen öffne, liegt er neben mir auf den Fliesen und blickt mich flehend an.
„Sagst du mir, was los ist?", bittet er mich und ich weiche seinem Blick beschämt aus. Er wird meine Gedanken lächerlich finden.

„Werde ich nicht", beantwortet er meinen unausgesprochenen Satz. „Aber wenn wir das nicht allein hinbekommen, muss ich Dr. Cooke anrufen."

Mein - nein, unser - Therapeut, Dr. Cooke brauchte schon lange nicht mehr zu einem Notfall zu uns gerufen werden. Henry und ich mussten ihm versprechen, stets offen miteinander zu sprechen. Dr. Cooke riet Henry, mich ebenso wie er aus meinem Gedankenkarussell zu holen, indem er mich meine Gedanken aufzählen lässt. Im Gegenzug tue ich das Gleiche mit Henry, wobei dies bislang erst einmal vorkam.

Ich atme tief durch, denn ein Notfallanruf bei Dr. Cooke würde mich noch mehr beschämen, zudem ich Henrys Euphorie über seine geplante Ausstellung ohnehin schon mit meiner Eskapade dämpfe.

„Morgen ist Ostern und ich habe etwas vorbereitet", beginne ich meine Gedanken aufzuzählen. „Letztes Jahr war so enttäuschend für dich und dieses Jahr wollte ich es richtig machen. Aber jetzt hast du vergessen, dass morgen Ostern ist und das ist meine Schuld, weil ich es letztes Jahr verdorben habe. Und was, wenn ich dir andere Feiertage auch verderbe und du dir dann jemand anderen suchst, damit du nicht mehr enttäuscht wirst?"

Henry streichelt sanft durch meine Haare und lächelt mich an.
„Zunächst einmal suche ich mir ganz bestimmt niemand anderen", beginnt er und ich atme erleichtert auf. „Und du hast es nicht verdorben, ich liebe Ostern nach wie vor. Dass du dir wirklich etwas überlegt hast, lässt mich jetzt schon vor Spannung platzen."

„Aber du wusstest eben nicht, dass morgen Ostern ist", wende ich ein.
„Weil ich so harikoa war", kichert Henry.
„Du warst was?"
„Euphorisch und begeistert über die Ausstellung. Mein Kopf ist gerade voller Bilder und ich muss zumindest einiges davon herausmalen, weil ich sonst durchdrehe", erklärt mein schmunzelnder Freund. „Was hälst du also davon, wenn ich für eine Stunde ins Atelier gehe und du in der Zwischenzeit hier.. Vorbereitungen triffst?"

Mit seinem Vorschlag entlockt mir Henry ein kleines Lächeln und ich nicke vorsichtig. Eigentlich ist seine Idee gar nicht so schlecht, denn so kann ich meine Geschenke ungestört für ihn verstecken, während er im Atelier ist.
„Und dann komme ich wieder und wir schauen noch eine Folge auf dem Sofa", vollendet Henry seine Idee und streichelt über meine Wange.
„Eine Stunde?", frage ich und er nickt lächelnd.
„Ich stelle mir auch einen Wecker."

•••

Zwanzig Minuten später bin ich wieder angezogen und schleiche mit meinem Eierkörbchen durch die Wohnung. Henry ist bereits auf dem Weg ins Atelier, es besteht also eigentlich kein Grund, auf Zehenspitzen umherzuschleichen, aber irgendwie fühlt es sich so richtiger an.

Hier und da schiebe ich die kleinen Plastikeier in kleine Verstecke. Zwischen Bücher, in Henrys Sockenschublade, sogar in die Mehldose. Ich bemühe mich, mir alle Verstecke zu merken, für den Fall, dass Henry eines der Eier nicht finden sollte.

Zum Schluss suche ich noch ein verpacktes Geschenk, das ich bereits vor einigen Tagen besorgt habe, aus meinem Schrank hervor und überlege, wo ich dieses am besten unterbringe. Letztlich entscheide ich mich dafür, das Geschenk hinter dem Fernseher zu verstauen und schaue auf meine Armbanduhr.

Da Henry noch etwa eine halbe Stunde im Atelier bleiben wird, beschließe ich, zu ihm zu gehen und ihn von dort abzuholen. So kann ich zumindest sein.. Harikoa noch etwas beobachten. Ich greife also nach meinem grasgrünen Aprilbuch und meinem Stift und mache mich auf den Weg zu ihm.

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