Kretin

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Die Juliluft ist noch mild und ich genieße den Fahrtwind auf meinem Gesicht, während ich Henry hinterherradele. Eigentlich würde ich viel lieber noch länger mit ihm durch die allmählich ruhiger werdende Stadt fahren, doch viel zu schnell erreichen wir die Galerie. Henry schließt unsere Fahrräder an einem Laternenmast vor der Fensterfront des Gebäudes an, als ein Mann, der etwa in unserem Alter ist, aus der Galerie geeilt kommt.

Er trägt ein pinkfarbenes Poloshirt und eine viel zu eng sitzende weiße Bermudashorts, die die starke Bräunung seiner muskulösen Waden noch deutlicher hervorzuheben scheint. Auch seine Arme sind sehr braun und ebenfalls sehr trainiert und seine Frisur sieht aus, als hätte er lange dafür gebraucht, bis seine blondgesträhnten Haare an Ort und Stelle mit Gel fixiert waren. Er hat eine ähnliche Surferausstrahlung wie Dominic, aber irgendwie... unangenehmer.

„Henry", seufzt er theatralisch und legt meinem Freund die Hand um die Hüfte. „Gott sei Dank bist du da. Ich war vollkommen fertig, als Mr. Goldstein anrief und mir offenbarte, dass wir in den großen Raum ziehen sollen."
Henry lächelt ihn aufmunternd an und scheint die unwillkommene Hand gar nicht zu bemerken. Ich hingegen beobachte die beiden argwöhnisch.

„Dann schauen wir mal, wie wir uns arrangieren. Ein größerer Raum ist doch schon mal eine sehr gute Nachricht", beruhigt Henry den Muskelmann und greift ganz selbstverständlich nach meiner Hand. „Das ist übrigens mein Freund Maxwell. Maxwell, das ist Liam."
Sunnyboy Liam mustert mich von oben bis unten und ich fühle mich augenblicklich unwohl.

„Freund?", fragt er langgezogen und sein Blick bleibt an unseren Händen hängen. „Davon wusste ich ja gar nichts."
In meinem Bauch drückt etwas. Es fühlt sich an wie ein heißer Klumpen Kohle und ich habe das Gefühl, dieser Klumpen zerfrisst langsam mein Inneres.
Henry lacht und zieht mich mit sich zur Eingangstür der Galerie.
„Weil du mir nie zuhörst, wenn ich nicht gerade darüber rede, wo welches Bild hinkommt, Liam", tadelt er den Galeristen scherzhaft. „Maxwell war die Inspiration für sehr viele meiner Werke."

Liam betrachtet mich noch einmal kritisch, gibt dann aber nur ein desinteressiertes „Aha" von sich. Ich stelle fest, dass meine Antipathie diesem Mann gegenüber sich seit unserem Kennenlernen nicht verflüchtigt, sondern vielmehr verfestigt hat. Als Henry mit ihm durch die Galerie eilt, ziehe ich langsam meine Hand aus seinem Griff, um meinen Rucksack abzunehmen und ihn zu öffnen.

Fragend dreht Henry sich zu mir um und ich zeige ihm mein sonnengelbes Julibuch mit den Sonnen und den Liegestühlen, die er darauf gemalt hat. Henrys Gesicht zeigt ein verständnisvolles Lächeln, doch ehe er etwas sagen kann, ruft Liam aus dem Nebenraum: „Sieh dir das an, Henry. Es ist ein Desaster!"

•••

Eine Stunde später sitze ich auf einem der unbequemsten Galeriestühle aus orangenem Plastik und bin fest davon überzeugt, dass der Kohleklumpen in meinem Bauch in eben genau dieser Farbe glüht. Henry und Liam gehen mit einem Stapel Fotos in den Händen durch den großen Raum und befestigen diese mit kleinen Klebestreifen an den Wänden. Immer wenn Henry ein paar Schritte zurücktritt, um sich die Wand als Ganzes anzusehen, folgt Liam ihm und legt seinen Arm um Henrys Schultern oder seine Taille. Überhaupt ist der Mann sehr kontaktfreudig und es stört mich sehr.

Was mich allerdings am meisten stört, ist die Tatsache, dass es Henry gar nicht zu stören scheint. Ein paar Male hat er Bilder umgeordnet und sich zu mir umgedreht, um zu fragen: „Was meinst du, Maxwell?" und ich habe nur mit den Schultern geguckt und geantwortet: „Gut."

Seit etwa fünf Umordnungen wurde ich nicht mehr gefragt und auch nicht mehr angesehen. Liam hingegen scheint auf irgendeine magnetische Art noch näher an Henry herangezogen zu werden und als er bei einem weiteren gemeinsamen Betrachten der Wand plötzlich wie selbstverständlich seinen Kopf auf Henrys Schulter ablegt, stehe ich abrupt auf und eile in den Eingangsbereich.

„Die Toilette ist hinten rechts", ruft Liam mir nach und ich beiße mir auf die Zunge, um ihm nicht etwas zurückzurufen wie „Gut zu wissen, denn darin werde ich dich gleich ersäufen!"

Du liebe Zeit, was ist denn los mit mir? Der Kohleklumpen glüht nun unaufhaltsam in mir und als ich nicht zur Toilette abbiege, sondern nach draußen auf die Straße trete, kommt mir die Abendluft alles andere als kühl vor. Gerade will ich mein Fahrrad greifen, als ich feststelle, dass es ja auf untrennbare Weise an das von Henry gekettet ist und Henry den Schlüssel in seiner Hosentasche hat. Fantastisch!

Ich drehe mich also in die Richtung, aus der wir vorhin mit den Rädern gekommen sind, und marschiere los. Vielleicht ist es auch besser, ich bediene gerade kein Gerät, auch kein Fahrrad, denn ich fühle mich nicht besonders zurechnungsfähig. Verzweifelt versuche ich mich daran zu erinnern, wie lange unsere Fahrt zur Galerie wohl gedauert hat und wieviel länger ich zu Fuß brauchen werde, doch immer wieder werden meine Überlegungen von Bildern von diesem Liam und Henry sabotiert.

Heute war das erste Mal, dass ich diesen Mann getroffen habe, aber Henry hat schon viele Tage und auch Abende mit ihm verbracht. Ich bleibe stehen und kneife meine Augen zusammen. Meine Hände pressen sich fest gegen meine Schläfen und ich atme hektisch durch die Nase ein und aus.

Das würde Henry nicht tun. Das würde Henry nicht tun, rede ich mir selbst zu. Aber Liam wusste nicht einmal, dass Henry einen Freund hat, sagt eine kleine, böse Stimme in meinem Kopf. Ich wimmere leise und wünsche mir gerade nichts sehnlicher als mein Badezimmer mit den kühlen Fliesen. Und Henry, der mich liebt und nur mich ansieht und nicht den braunen Arm eines Galeristen-

Lautes Autohupen lässt mich zusammenzucken und die Augen aufreißen.
„Können Sie woanders meditieren, Mister?", ruft mir ein halbglatziger Mann aus seinem Auto zu. Ich bin offensichtlich genau auf einer Straße zum Stehen gekommen und hindere den Mann in seinem schwarzen Familienvan nun daran seinen Fahrtweg fortzusetzen.

Hastig setze ich mich in Bewegung und eile auf die andere Straßenseite.
„Was für ein Kretin!", regt sich der Mann auf, als sein Fahrzeug sich allmählich von mir entfernt. Ich blicke ihm verdutzt nach und schicke innerlich ein Dankgebet in seine Richtung, denn den restlichen Weg nach Hause denke ich ausschließlich darüber nach, was das Wort Kretin wohl bedeutet und ob Henry es kennt. Wenn nicht, wird er es bald kennenlernen, denn ich habe das Gefühl, seine Bedeutung ist nicht sonderlich positiv.

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