Kapitel 1

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Was ist, wenn du ein kompliziertes Leben hast und alles schief zu gehen scheint? Wenn du manchmal das Gefühl hast, du gehst in allem unter, kannst nichts mehr stemmen... Was machst du dann? Die meisten tun wohl nichts, sie versuchen, den Kopf über Wasser zu halten, um nicht zu ertrinken. Um die Kontrolle zu behalten über den Strom, der einen mitreißt, über die vielen Pflichten, Probleme und Sorgen, die einem jeden Tag begegnen. Nehmen einen letzten Atemzug, bevor sie abtauchen in das scheinbar klare Wasser. Die meisten merken wohl nicht, dass es dann zu spät ist, dass einen der tiefe Ozean immer weiter in die Dunkelheit zieht. Die meisten kämpfen wohl nicht. Aber sie hat es getan. Sie hat gekämpft, ist immer weiter geschwommen, obwohl sie schon keine Kraft mehr hatte. Und irgendwann kam das Ufer...

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Es ist schon spät und sie läuft durch die dunkle Straße, die endlos wirkt. Ein schwacher Schein einer der Straßenlaternen spendet etwas Licht, sodass sie noch den unebenen Bordstein erkennt, der an die rissige Straße anschließt. Die Schlaflosigkeit hat sie in die sternenklare Nacht getrieben, der Wind spielt mit ihren blonden Locken. Sie konnte bereits seit Stunden nicht schlafen, bis sie sich dazu entschloss, etwas kühle Nachtluft zu schnappen. Keine zehn Minuten ist es her, dass sie träge das Bett verließ, langsam zu ihrem Schrank schlurfte, sich einen weinroten Oversizepulli herausnahm und ihn über ihren sommerlichen Schlafanzug bestehend aus kurzen Shorts und einem Top warf. Darunter wurde ihre zierliche Person gehüllt. In ihren weißen Sneakern verließ sie ziellos das Haus und lief einfach die Straße entlang. Mal wieder hatten sie ihre Gedanken und Sorgen wach gehalten. Bred hatte ihr geschrieben. Wie sonst auch, wenn er ins Bett ging. Ich liebe dich hat er geschrieben. Und mal wieder stellte sie sich dieselbe Frage. Liebt sie ihn auch?

Es ist vollkommen still. Nur der Wind verweht ein paar Blätter in den umliegenden Gärten. Aus einiger Entfernung hört sie eine Eule. Der Asphalt kratzt an ihren Solen. In weiter Ferne sieht sie ein paar Autos auf der Hauptstraße entlangfahren, ein weiteres Licht erscheint in ihrem Sichtfeld. Es gehört zu einer etwas heruntergekommen Tankstelle. Ein Motorrad steht an einer der Tanksäulen. Sie überlegt. Ihr Magen knurrt. Sie schlägt den Weg Richtung Tür ein, die sie schon nach Sekunden erreicht. Als sie diese öffnet, kommt ihr augenblicklich ein Schwung des intensiven Kaffeegeruchs entgegen. Sie läuft scheinbar etwas unschlüssig durch die Regale, überlegt, was sie essen soll. Ein weiteres Knurren entfährt ihrem Magen, als sie zielstrebig auf eine Käsesemmel zuläuft, die im Backwarenregal an der Kasse liegt. Plötzlich stößt sie mit einer Person zusammen, erschrocken zuckt sie und spürt eine Wärme auf ihrer Brust.

Die zusätzlich aufkommende Verwirrung in ihr verschwindet jedoch von der einen Sekunde auf die andere, als sie ein dunkelbraunes Augenpaar entdeckt, dass sie neugierig mustert. Der Blickkontakt bricht kurz, als die andere Person einen auf dem Boden liegenden Becher aufhebt. "Oh man das tut mir so leid, ich hab dich nicht gesehen", meint sie etwas aufgewühlt. Mit einem Blick auf ihren Pullover fällt dem Mädchen mit den blonden Locken plötzlich der Kaffeefleck auf und sie beginnt zu verstehen. Sie wirft der unbekannten Person, die wohl eine Frau zu schein scheint, wie es ihre Stimme und ihre Figur unter der Motorradkleidung verrät, einen beruhigenden Blick zu. "Alles gut, das kann jedem passieren. War wahrscheinlich sowieso meine eigene Schuld, ich hätte mich besser umschauen müssen." Die ihr gegenüberstehende Dame schüttelt jedoch den Kopf. "Unsinn, dich trifft keine Schuld", sagt sie, bevor sie zu lachen beginnt. "Diskutieren wir hier wirklich gerade darüber, wer die Schuld auf sich nimmt? Ist das nicht normalerweise irgendwie andersrum?" Auch sie muss jetzt schmunzeln, da das doch eine sehr bizarre Situation zu sein scheint. Beide stehen sie nun in der heruntergekommenen Tankstelle in der dunklen Nacht und lachen.

Damn sie hat ein verdammt schönes Lachen

denkt sie sich, während sie ununterbrochen in die dunkelbraunen Augen sieht. Wieder ihr Magenknurren. Als beide sich wieder beruhigt haben, meint die Fremde: "Du hast Hunger, oder? Ich lade dich ein, sozusagen als Entschädigung." Sie nimmt ihren Helm ab und wirft ihre Haare in den Nacken. Lange, dunkelbraune, lockige Haare. Wow. Sie scheint nahezu perfekt. Ihre leicht gebräunte Haut, ihre weichen, dunklen Haare, ihre dunkelbraunen Augen und ihre Lippen...

"Hey, alles in Ordnung?" fragt diese Schönheit das blonde Mädchen. Dieses fängt sich wieder und nickt hektisch. Mit filigranen Bewegungen bewegt sich die Fremde zur Kasse, holt sich einen neuen Kaffee und etwas zu essen für die Eingeladene. Mit einem Nicken zur Tür gibt sie ihr zu verstehen, dass sie sich draußen hinsetzen werden. Beide verschwinden in die Dunkelheit nach draußen, setzen sich auf den rissigen Bordstein. Sie reicht ihr das Essen, eine Käsesemmel, und sieht ihr tief in die Augen. Das kann sie trotz der Dunkelheit erkennen.

"Ich bin übrigens Ella", flüstert die braunhaarige und zwinkert ihr zu. Ihr Herz schlägt augenblicklich eine Nuance schneller, während sie antwortet. "Freut mich. Mein Name ist Ashley. Aber alle nennen mich Ash."

Sie ist sich fast sicher, dass Ella lächelt. "Schön, dich kennenzulernen Ash."

Beide sitzen sie jetzt da, in der Dunkelheit, die nur von dem OPEN-Schild der Tankstelle und den Sternen am Himmel erleuchtet wird. Beide aus komplett verschiedenen Welten. Doch das wissen sie noch nicht.

Stolen heartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt