𝐈.

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Es lag eine poetische Schönheit in der Unvollständigkeit der Dinge.

Kim Taehyung betrachtete die weißgraue Statue aus der Epoche des Hellenismus, ungefähr aus dem Jahre 30 vor Christus, zu Zeiten des römischen Reiches. Vorsichtig streckte er die Hand danach aus und strich behutsam über das Marmorgestein, das die Griechen damals aus den Steinbrüchen nahelegender Inseln gewonnen hatten.

Er nahm einen langen Atemzug, als er die Kälte des Gesteins unter seiner Haut fühlte. Die Weltgeschichte heftete unter seinen Fingerspitzen, von der Kultur der römischen Antike bis hin zu den Kunstdiebstählen im zweiten Weltkrieg.

Als er das brüchige Loch auf der rechten Wange erreichte, hielt er inne. Mit einem bedauernden Ausdruck in seinen neugierigen, braunen Augen ließ er die Hand wieder sinken.

Dennoch ist es die Unvollständigkeit, die in uns die Sehnsucht erweckt, uns Ganz fühlen zu wollen. Uns auf die Suche zu machen, nach diesem einen Teil, das uns noch zu fehlen scheint.

Vielleicht war es das, was Taehyung so an dieser Skulptur inspirierte. Er trat einen Schritt zurück und fasste sich beinahe unbewusst an die eigene, rechte Wange seines Gesichts. Auch er hatte das Gefühl, unvollständig zu sein. Auch er war bereit, sein fehlendes Stück zu finden uns sich zum ersten mal in seinem Leben wieder ganz zu fühlen.

Er warf einen Blick zur Seite, wo das heutige Marmor in der Wand des Museums so hell war, dass er sich darin wiederspiegelte. Sein silberblondes Haar wirkte fast weiß durch das Licht der aufgehenden Sonne, die sich in dem Glasdach des Hauptgebäudes reflektierte.

"Dachte ich mir doch, dass du schon da bist.", gähnte Minho und reichte ihm einen dampfenden Kaffeebecher. "Du bist immer die erste Seele hier, noch vor dem Museumsdirektor.", er schüttelte verständnislos mit dem Kopf.

Überrascht betrachtete Taaehyung seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter, der die schulterlangen, dunklen Haare heute zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden hatte und zur Abwechslung mal ein richtiges Hemd trug, anstelle derselben grauen Adidas-Jacke.

"Danke, aber ich trinke keinen Kaffee.", winkte er ab, "Der-", setzte er gerade an, als Minho ihn kurzerhand unterbrach, "Der Geschmack, ich weiß du kannst ihn nicht ab. Das hier ist grüner Tee, hab gehört der enthält sowas ähnliches wie Koffein."

Dankbar ergriff Taehyung den warmen Kunststoffbecher, auf dem das Logo des National Museum of Modern and Contemporery Art draufgedruckt war, in dem er nun seit fast zwei Jahren arbeitete- und das trotz seinen frischen 23 Jahren, die er alt war.

Er erinnerte sich noch genau an den ersten Tag, als er gerade den Abschluss seines Kunstgeschichte-Studiums in der Tasche hatte und dieses Museum ihm vorgekommen war wie der Himmel auf Erden.

An diesem Tag fand zugleich die erste Ausstellung von 'Golden Closet' statt, und seitdem hatte er keinen Künstler mehr gefunden, der ihn mehr begeisterte.

Golden Closet war der Name eines anonymen Künstlers, der ein mal im Jahr eine Exhibition anbot und sonst über das Jahr verteilt monatlich ein neues Gemälde ausstellen ließ. Auch wenn sich mittlerweile die Kunstszene in ganz Korea fragte, wer dieser begehrenswerte Künstler ist, hatte Taehyung das Gefühl, er würde alles geben was er besaß, um es herauszufinden.

Unzählige Male hatte er bereits versucht, ihn auf frischer Tat zu ertappen oder (mit Minho's Hilfe) im Computerdatensystem des Museums irgendwelche hilfreichen Spuren über ihn zu erhalten- aber Golden Closet blieb ein Gespenst in seinem Kopf, dass ihn manchmal tagelang wach hielt.

"Du bist sicher schon gespannt auf die Exhibition heute. Golden Closet schlägt wieder zu, hab ich gehört.", zwinkerte Minho.

Taehyung gab vor, sich voll und ganz auf die Skulptur vor seinen Augen zu konzentrieren. "Weißt du schon, um welche Zeit seine diesjährigen Werke hier ankommen sollen?", wollte Taehyung wissen und gab sich alle Mühe, beiläufig zu klingen.

Doch Minho begann plötzlich zu lachen: "Deine Stimme ist einfach drei Oktaven nach oben gerutscht, du bist ja richtig nervös!"

Deprimiert ließ Taehyung den Kopf hängen und begann, an den Ärmeln seines weißen, gestreiften Hemd's herumzuziehen.

"Du hast immernoch einen Crush auf 'Golden Closet', hm? Was ist das nur, dass dich an ihm so fasziniert?"

Über diese Frage musste Taehyung keine Sekunde nachdenken. Golden Closet schien n der Lage zu sein, alles was Taehyung in seinem Leben je gefühlt hatte, mit nur einer Leinwand und ein paar wenigen Farben ausdrücken zu können.

Er malte, wozu Worte nicht imstande waren.

Und er zeigte Gefühle, die nicht einmal Berührungen imstande waren zu vermitteln.

Aber bevor Taehyung antworten konnte, meinte Minho: "Weißt du was, ganz egal wer es ist, mit deinem Gesicht könntest du jeden haben. Ich hoffe du findest ihn oder sie- obwohl in deinem Fall ein ER definitiv besser wäre..."

Manchmal vergaß Minho offensichtlich, dass er nur ein wissenschaftlicher Mitarbeiter war und Taehyung immerhin der Museumskurator. Er stand also noch weit über ihm, und musste sich nicht unbedingt Minho's kompletten Vortrag über sein Liebesleben anhören.

Mit einer strengen Miene in seinem eigentlich von Natur aus sanften Gesicht deutete Taehyung auf die Skulptur, die er den ganzen Morgen betrachtet hatte: "Füg die hier bitte zum Bestand hinzu, das Museum muss sie unbedingt behalten.", damit drehte er sich um und lief zurück in sein Büro, um noch ein paar Akten der neuen Kunstsammlungen zu durchforschen.

Wie sich recht schnell herausstellte, schien grüner Tee nicht wirklich mit Kaffee vergleichbar zu sein. Das stellte Taehyung jedenfalls fest, nachdem er Stunden später mit dem Gesicht auf seiner Akte aufwachte und sich ärgerte, dass er die Nacht zuvor kein Augen zubekommen hatte. Und das alles nur, weil er so gespannt auf die Exhibition war, die heute um 18 Uhr stattfinden sollte.

Mit einem Blick aus dem Fenster bemerkte er, dass es schon dunkel geworden war. Panisch riss er die Augen auf und sah auf seine silberne Armbanduhr: 18:30 Uhr.

"Das kann doch nicht wahr sein...!", Taehyung sprang aus seinem breiten Ledersessel und musterte sich schnell in dem kleinen Spiegel an seiner Wand. Na super, natürlich hatte er auch noch einen Abdruck von der Akte auf seiner rechten Gesichtshälfte.

Seufzend fuhr er sich durch sein silbernes Haar und steckte das weiße Hemd säuberlich unter den Ledergürtel seiner schwarzen Hose. Ein längerer Ohrring aus Silber baumelte an seinem linken Ohr und er beschloss, als weiteres Accessoire noch einen dünnen Seidenschal um seinen Hals zu binden.

"Ok!", sagte er zu seinem attraktiven Spiegelbild, bevor er das Büro verließ.

Als er schließlich die Treppen hinabstieg und die große Ausstellungshalle betrat, raubte ihm die Sicht den Atem.

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hi there! Das ist meine erste Short Story, also werden es denke ich nur maximal bis zu 10 Kapitel... aber ich wollte neben meinem Roman über Taekook, der ihre komplette Liebesgeschichte umfassen wird, noch ein paar Kurzgeschichten schreiben und beenden!

Was haltet ihr von der Idee hier? Teilt mir eure Gedanken unbedingt mit! xoxo

Liza



Butterflies | taekookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt