Kapitel 1 - Cassy Verhoeven / Cassy

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„Wir haben es endlich geschafft! Ich stehe wirklich kurz vor einem Burn-out." sagte Aria. Ich nickte nur seufzend. Ja endlich haben wir den Titel systemische Therapeuten, neben der pädagogischen Ausbildung. Systemische Therapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren. Sie wird in der Behandlung bestimmter Beschwerdebilder wie: psychosomatische Störungsbilder, Schicksalsschläge, Übergang in eine neue Lebensphase (Karriere etc.), Lebensmüdigkeit, Anpassungsstörrung, episodenhafte Angst- und Zwangsstörungen sowie leichte bis mittelschwere Erschöpungsdepressionen und deren Symptomen erfolgreich angewendet. Das hätte genauso gut eine Persönlichkeitsbeschreibung von mir und Aria gewesen sein können. Mir blieb immer im Hinterkopf, dass wir beide, obwohl wir tausend Weiter- und Fortbildungen machten, immer das Gefühl hatten im Stillstand zu leben. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Wir, mittendrin - die einzigen die sich fortbewegen ohne Erfolg. Wir haben in so vielen Einrichtungen gearbeitet: Frauenhäusern, in Kinder- und Jugendeinrichtungen und den verschiedensten Beratungsstellen. Aber bisher haben wir nie das Gefühl gehabt, angekommen zu sein. Die Welt drehte sich ohne uns weiter. Irgendwas fehlte uns immer. „Meinem Traum wieder ein Stück nähergekommen. Den Sprachkurs natürlich mit Bestnote bestanden. Ich weiß zwar nicht wirklich warum du den Kurs auch gemacht hast aber schaden kann es nie..." Ich zuckte nur mit den Achseln. So ganz wusste ich das auch nicht. Vielleicht um den Kopf auf andere Gedanken zu bringen. Aria hingegen brauchte diesen Sprachkurs um längerfristig in Südkorea arbeiten und leben zu können. Seit einigen Jahren plante sie den Aufenthalt dort, doch durch mehrere Hürden in ihrem bisherigen Leben verzögerte sich dies immer und immer wieder. Dieses Jahr war es endlich soweit. Das Einzige was noch fehlte war der Job.
Die Sonne war gerade dabei unterzugehen und es war bereits ziemlich dunkel geworden. Wir waren auf dem Weg in eine Bar. Draußen ist es kühl und unbehaglich, seit langem war es wieder ein goldener Herbst. Die Blätter fielen von den Bäumen und verteilten sich überall in den Gassen unserer kleinen Stadt. Dies zeigte mir, dass der Winter vor der Tür stand und die Zeit scheinbar verging. Die Wolken am späten Abendhimmel waren bloß eine Illusion, einer der vielen Industrieöfen. Mein Leben schien jedoch wie eingefroren zu sein, keine Wärme die mein Leben voranschreiten ließ, keine Musik die mir Hoffnung schenkte.
„Meinst du anderen geht es genauso wie uns? Keinen zufrieden stellenden Job, einen Alltag der sich jeden Tag aufs Neue wiederholt? Nichts Aufregendes oder Gewagtes... Vielleicht suchen ja in dieser Bar zwei schöne Männer eine therapeutische Abendbegleitung?!" Ich hörte mich viel zu ernst an, sodass Aria einfach nur loslachte. „Klar während wir im puren Genuss eines edlen Tröpfchens sind, kommt bestimmt jemand der zufällig zwei alkoholisierte unzufriedene verbitterte pädagogische Therapeutinnen in der Blüte ihres Lebens sucht. Hast du schon zu viel gehabt?" Ich verdrehte nur die Augen, ja sie hatte recht. Doofer Scherz. Den Abend über beschwerten wir uns nach mehreren Gläsern Wein wie langweilig und einsam unser Leben doch war. Wie zwei alte Jungfern.
Aria drängte mich regelrecht dazu ihr meine Bewerbungsunterlagen zu zusenden damit sie meine mit ihren Vergleichen konnte, offensichtlich um zu sehen ob sie was an ihrer Bewerbung noch verbessern konnte. „Von mir aus kannst du sie auch zu irgendwelchen Firmen senden, ich habe sowieso nichts zu verlieren." Aria zog die rechte Braue hoch „Das war doch nur ein Scherz." sagte ich, im angeheiterten Zustand. „Ein ziemlich schlechter... Pass auf, du kennst mich, dann bekommst du morgen einen Anruf: Frau Verhoeven sie sind EINGESTELLT!" Ja klar Aria und ich bin der Papst höchst persönlich. Sie hatte manchmal wirklich eine blühende Fantasie. Irgendwie war ich neidisch. Sie traute sich den großen Sprung um den Trott hier in Deutschland zu entkommen und hatte schon eine ziemlich genaue Vorstellung wie ihr Sprung ins ungewisse aussehen sollte. Ich jedoch, lag abends auf dem Sofa, mit meinem Weinglas in der Hand und wunderte mich warum mein Leben so trostlos war. Dann überrollte mich die Einsamkeit eines jeden Singles. Nicht viel später, dann der Gedanke, dass niemand allein war und man sich doch selbst lieben sollte. Es entstand ein innerlicher Konflikt. Selbstzweifel vs. Selbstliebe, Feuer gegen Wasser. Wovor hatte ich eigentlich so große Angst, alle anderen konnte ich auch akzeptieren und warum nur nicht mich selbst? Diese Gedanken kamen mir so oft in den Sinn. Von Tag zu Tag immer häufiger, sodass ich sagen konnte, dass ich mich und diese Gedanken akzeptierte, egal wie positiv oder negativ sie sein möchten. Sie halfen mir schließlich beim Wachsen. Nichtsdestotrotz war es an der Zeit, mein Leben in die Hand zu nehmen und meine Bewerbungen rauszuschicken. Aria wollte meine Unterlagen, also schickte ich ihr sie via Mail zu. Ob ihr das helfen würde? Wer weiß. Ich sah mich im Internet nach Stellenanzeigen um. Es war eigentlich immer nur dasselbe. Aber um auch in Zukunft das Futter meiner Katzen zahlen zu können, bewarb ich mich noch am selben Abend auf mehrere Stellenausschreibungen. Wer weiß, vielleicht war darunter dieser eine aufregende Job, nach welchen ich suchte.
Draußen prallte der Regen gegen meine Fensterscheiben. Es war fast so als würde ich jeden Tropfen einzeln hören können. Der Mond schien heller und war viel größer als sonst. Vielleicht war es auch eine Einbildung, dafür jedoch das schönste was ich seit langem gesehen hatte. Er wirkte wie ein Portal, dass ich nur noch durchqueren musste, vielleicht um in ein neues aufregenderes Leben zu gelangen. Ich musste mir vorstellen, wie am anderen Ende des Portals jemand saß und genau dasselbe denken musste. Jemand, der auf mich wartete. Einer der vielen Vorteile, wenn man wie ich in der Nacht, nicht so gut schlafen konnte. Nicht, weil ich unbedingt wach bleiben wollte sondern, weil ich einfach immer Schwierigkeiten damit hatte einzuschlafen. Meine Gedanken waren einfach zu laut. Also sah ich das positive daran: Ich konnte mir wenigstens den Sternenhimmel ansehen. Irgendwer musste sich einfach auf dieser Welt, genau in diesem Moment den Himmel ansehen und würde wohlmöglich dieselben bescheuerten Vorstellungen vom Leben haben wie ich. Diese Vorstellung war einfach zu schön und traurig zugleich. Verrückte Welt. Wenn ich so an meine Anfänge im Beruf denke, hätte ich mir meinen Weg ein wenig anders vorgestellt. Irgendwie aufregender. Aber auch das anfangs so aufregende wurde zum Alltagstrott. Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Mama erschien auf dem Display. Ich drehte es um sodass ich nicht sah, dass ich angerufen wurde. Ich war gerade nicht in der Stimmung mit ihr zu sprechen. Das Telefonat würde sowieso wieder nur im Streit enden. Eigentlich dachte ich, dass die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter besser werden würde, als ich damals auszog. Doch ich habe mich mittlerweile eines Besseren belehren lassen. Meine Mutter und ich hatten nicht das schlechteste Verhältnis zueinander. Aber ich würde es wohl eher kühl als warm bezeichnen, dies war schon immer so. Ich konnte mich an kein anderes Gefühl erinnern. Dies spiegelte sich in meinen kommenden Beziehungen, sei es Freundschaft oder Liebe, wieder. Irgendwie zog es mich immer wieder zu den Menschen die mir die kalte Schulter zeigten oder weniger Interesse an funktionierenden Beziehungen hatten wie ich. Ich versuchte mit allen Mitteln diesen Bann zu durchbrechen, da ich nicht immer dieselben Erfahrungen machen wollte. Erfolglos. Letzten Endes entschied ich mich dazu einfach aufzugeben. Ich nahm eben den leichteren Weg. Wovon ich im Gegensatz, meinen Klienten immer abgeraten hatte.
„Hallo Mama. Sorry habe das Klingeln nicht gehört." Eine Lüge.
„Dachte ich es mir, du bist noch wach. Sag mal, unsere Sippschaft kommt nächste Woche. Kommst du zum Essen?"
Ich verdrehte die Augen, zum Glück sah sie das nicht. Sonst dürfte ich mir einen Vortrag über Respekt und/oder gewaltfreie Kommunikation anhören. Meine Mama war auch Pädagogin und hasste Familienessen, veranlasste diese aber immer wieder. Diese verliefen wie folgt: Es wurde sich gegrüßt und man umarmte sich. Man fragte ganz kurz wie es jedem ging, hat aber kein wahres Interesse am Wohlbefinden des anderen gehabt. Dann regte man sich über die eine Person auf, die nicht zum Essen erschienen war und dann beschweren sich meine Großeltern bei meiner Mutter darüber, dass ich immer noch unverheiratet und Kinderlos war. Na toll. „Ich glaube ich muss an dem Tag leider arbeiten." Eine weitere Lüge.
„Auf deinem Dienstplan sieht das aber anders aus. Du hast doch Urlaub?!"
Mist. Warum schickte ich ihr meinen Dienstplan auch immer wieder. „Ach, falsche Woche. Ja klappt. Dann schaffe ich es doch. Ich komme etwas später, weil ich vorher etwas Wichtiges zu erledigen habe." Eigentlich musste ich nirgendwo hin aber das musste ja niemand Wissen, solange mir diese Lüge abgekauft wurde, war alles in Ordnung.
„Aber halt dich dieses Mal ein wenig zurück mit deiner Attitüde. Du weißt, dass das nur zu Diskussionen führt." Ich wusste, dass meine Mutter das sagen würde. Sowas sagt sie ständig, wenn diese sognannten „Familienessen" anstanden. Immer wieder war es mein Verhalten was Diskussionen auslösen würde. „Jap..alles klar. Ich will versuchen zu schlafen. Gute Nacht Mama." Ich habe direkt aufgelegt und starrte an die Decke. Bin ich so schlimm? Führt mein Verhalten wirklich immer zu Diskussionen? Schon letztes Jahr musste ich mich am Riemen reißen und habe mich so gut es ging verstellt. Das erinnerte mich an meine letzte Beziehung. Ich habe versucht so zu sein wie ich war, doch aus Angst, dass mein wahres Ich zu kompliziert und nervig war, habe ich mich verstellt. Ich wollte perfekt wirken. Aber was ist schon perfekt? „Du bist einfach zu kompliziert. Du hast zu hohe Mauern um dich herum aufgebaut und lässt niemanden an dich ran. Ich kann das nicht mehr... es tut mir leid Cassy." Mit diesen Worten verabschiedete er sich und damit meine Hoffnung auf denjenigen der für immer bleibt.

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