Glatteis

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"Was wollten Sie denn da auch hin, Alberich!"

"Ich? Sie haben doch das Anmeldeformular abgeschickt!"

"Sie haben mich dazu genötigt! Oder haben Sie Ihre Moralpredigt von wegen 'kollegialer Verantwortung' schon vergessen?"

"Natürlich nicht... aber ich hätt's bleiben lassen, wenn ich gewusst hätte, dass Sie mich da mitschleppen, Chef."

"Ihnen hätte klar sein müssen, dass ich da nicht alleine hinfahre, Alberich! Außerdem haben Sie zugestimmt, mich zu begleiten."

Wäre ihr Chef nicht am Steuer gesessen, hätte er jetzt sicher beleidigt die Arme vor der Brust verschränkt. Auch Silke war der Diskussion längst überdrüssig. Es war doch immer dasselbe mit ihnen - der andere war Schuld. Gut, diesmal hatten sie wohl beide Schuld. Boerne hatte sich nämlich auf Silkes Drängen hin zu einem rechtsmedizinischen Kongress in der Gerichtsmedizin in Köln angemeldet. Er hatte da natürlich nicht hingewollt - Boerne stand zwar gern im Mittelpunkt und redete wie ein Wasserfall, aber solche Versammlungen waren noch nie sein Ding gewesen -, aber sie musste ihm mit ihren Moralvorträgen dermaßen auf die Nerven gegangen sein, dass er sie schließlich gleich mit angemeldet hatte.

In den letzten Tagen hatten sie noch darüber gescherzt und sich auf "geteiltes Leid ist halbes Leid geeinigt". Jetzt, wo sie gemeinsam in Boernes Luxusschlitten saßen und sich immer weiter von Münster entfernten, schien sich ihr Leid mit jedem Kilometer zu verdoppeln und verdreifachen.

So ein Kongress allein war schon keine spannende Angelegenheit und auch die auswärtigen Kollegen konnten einem ziemlich auf den Senkel gehen. Aber gestern Abend hatten sie dann das Programm für die zweitägige Veranstaltung gemailt bekommen, welches sich noch schlimmer anhörte als Silke und ihr Chef vermutet hatten. Denn dieses Wochenende standen nicht Livores, Rigor Mortis und Hämatome im Vordergrund, sondern Teambildung. Neben einigen Fachvorträgen hatten die Initiatoren nämlich beschlossen, dass es eine gute Idee sei, die Rechtsmediziner mit "Spiel und Spaß" mehr zusammenzuschweißen. Für zukünftige Kooperationen, regen Austausch unter Fachleuten und andere Zukunftsvorstellungen, die kein Mensch je in die Tat umsetzen würde.

"Es wird schon nicht so schlimm werden", meinte Silke. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie damit ihren miesepetrigen Chef oder sich selbst aufheitern wollte.

"Das sagen Sie jetzt, Alberich, das sagen Sie jetzt", plädierte ihr Chef und warf ihr dann einen seltsamen Seitenblick aus zusammengekniffenen Augen zu. "Warten Sie nur, bis sich Roth wieder mit seinen überdimensionalen Pranken auf Sie stürzt und Sie überreden will, nach Köln in seinen Leichenbunker zu kommen..."

"Naja, sein 'Leichenbunker' hat jedenfalls eine stattliche Größe und ist -"

"Somit viel zu groß für Sie", warf Boerne ein. Etwas an seinem Unterton sagte Silke jedoch, dass er mit dieser Aussage gar nicht so sehr auf einen Zwergenwitz aus war, sondern einfach Roths gerichtsmedizinisches Institut schlechtmachen wollte.

"Sie sind doch nicht etwa eifersüchtig?", gluckste Silke amüsiert. Boerne war zwar nicht amüsiert, aber warum sollte sie sich keinen Spaß daraus machen, ihn ein bisschen aufzuziehen?

"Eifersüchtig? Papperlapapp! Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich ohne Sie zumachen kann", grummelte er und starrte auf die Straße.

Silke schmunzelte. Er war also wirklich eifersüchtig. Es stimmte schon, dass Dr. Roth sowohl bei einer Fortbildung vor einem Jahr als auch bei der ein oder anderen Dienstfeier im großen Kreise versucht hatte, Silke für seine freie Assistentenstelle anzuwerben. Natürlich auf recht freundliche Weise - der Kölner Rechtsmediziner war gar nicht der furchtbare Rottweiler, als den Boerne ihn dargestellt hatte. Doch Silke hatte an Boernes Blicken gesehen, dass ihm das gar nicht gepasst hatte. Die Sache offen angesprochen hatte er trotzdem nicht. Dafür war er sich dann wohl doch zu eitel. Umso mehr überraschte es sie, dass er jetzt direkt offen darüber sprach. Es lag wohl an der Gesamtsituation, da sprach wohl selbst ein Professor Boerne manchmal schneller, als er denken konnte.

GlatteisWhere stories live. Discover now