Vielleicht war ja alles ganz anders. Immerhin ist, was Homer uns in der Ilias und in der Odyssee übermittelt, nicht am Rande des Schlachtfelds und auf der Schwelle des Palastes von Ithaka notiert worden. Nein, was er zu seinen Epen verarbeitete, war durch mindestens drei Generationen Erzähler gefiltert und ausgeschmückt worden. Er selbst war gewiss auch zu Anpassungen bereit, immerhin musste er gerade die europäische Literatur erfinden. Das war an sich ja schon eine Heldentat sondergleichen.
Vielleicht also bereisten die Achäer und Danäer das Mittelmeer mindestens bis zur Höhe Siziliens als Kaufleute und Piraten und verdingten sich den Hethitern, Mykenern und Ägyptern als Söldner für deren Kriege. Das ist gut denkbar, weil es so aussieht, als hätten klimatische Veränderungen ihrer Landwirtschaft zugesetzt. Hunger aber macht tüchtig, und Not macht wagemutig. Die ökonomische Situation verschärfte sich dann, als mit dem Ende des Bürgerkriegs in Ägypten dort keine Söldner mehr gebraucht wurden.
Da könnte es einem ambitionierten und charismatischen Anführer wie Agamemnon gelungen sein, eine Anzahl von Stammeskönigreichen und Söldnerhaufen wie die Myrmidonen unter ihrem Anführer Achilles hinter sich zu vereinigen, um ein grosses Vorhaben durchzuführen. Als Ausgangspunkt dafür wäre die Stadt Ilion in jener Gegend des hethitischen Reiches, die damals Troia genannt wurde, ganz ausgezeichnet geeignet. Denn sie war per Schiff einfach zu erreichen und bekannt für ihre Pferdezucht. Mit Pferdewagen und einer Flotte hätte Arka Memnun nun die hethitischen Küstenstädte in die Zange nehmen können, vielleicht um sie zu plündern, vielleicht aber auch, um sich ein eigenes Reich zu schaffen.
Aber schon der Auftakt dieses Feldzuges endete in Gewalt und Tod und mit einer brennenden Stadt. Dieses Scheitern ist es, das Homer in der Ilias, den Geschichten der Veteranen und ihrer Enkel folgend, in einen grossen Sieg umdeutet. Womit übrigens ganz klar ist, dass Helena an der ganzen Sache keinerlei Schuld hat und auch nicht einfach so ihre Tochter Hermione hat sitzen lassen, nur um einem daher gelaufenen Prinzen namens Paris zu folgen.
Nach der Eroberung der Stadt zerbrach wohl das Bündnis, und die Teilnehmer wandten sich in verschiedene Richtungen. Agamemnon selbst ging wieder in seine Heimat, wo sich seine Frau mit einem anderen getröstet hatte, der sie und schon gar nicht das Königreich wieder rausrücken wollte. So starb einer, den die Nachwelt unter anderen Umständen vielleicht "den Grossen" genannt hätte, splitternackt in seinem Bad.
Ajax, Achilles und einige andere Anführer der Achäer und Danäer starben beim Sturm auf die Stadt, deren Bewohner sich aus Leibeskräften gewehrt haben. Odysseus wurde wahrscheinlich schon in Ismaros erschlagen, als er diese Stadt in Thrakien plünderte, die einheimischen Kikonen dann aber einen Gegenangriff unternahmen. Schon dieser Überfall legt ja nahe, dass der Sieg über Troja zumindest ökonomisch kein grosser Erfolg gewesen ist. Denn warum sonst hätte dieser Held, den uns Homer als treuen Familienvater beschreibt, den Umweg nach Norden machen, um dort seine Reisekasse aufzufüllen?
Menelaos stellte sich an die Spitze all jener, die nicht nach Hause zurückkehren wollten oder konnten, und führte sie zu einem Überfall nach Ägypten, der ziemlich sicher auch nicht gut ausging. Gelang ihm die Rückkehr nach Sparta, in die heimische Armut und zu seiner komplizierten Familie? Wir werden es sehr wahrscheinlich nie erfahren.
Nur von wenigen, die keine Fürsten sind, gibt Homer uns die Namen und von noch weniger noch eine Beschreibung. Eurybates ist da einer, der erst Herold des Odysseus, später des Agamemnon ist, bevor er aus der Erzählung verschwindet, dann Eurylochos, der Steuermann auf dem Schiff des Königs von Ithaka ist, und Thersites, den uns der Dichter als Defätisten darstellt. Aber vielleicht ist ja der Held der Odyssee selbst einer dieser "einfachen Männer", die selten so einfach sind, wie ihnen der Begriff unterstellt.
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Der Mann, der nach Ithaka kam
Historical FictionEin Versuch, hinter die Ilias und die Odyssee des Homer zu sehen