Kapitel 1 - Vergangenheit

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Da saß ich nun. Auf dem gleichen Sitzplatz wie die letzten Tage auch schon und schaute verträumt aus dem Fenster. Die vorbeirauschende Landschaft vermischte sich immer mehr mit meinen Gedanken und formte ein Gefühl, welches ich selbst nur schlecht beschreiben konnte.

Es war die geballte Mischung aus Hoffnung und Einsamkeit, die sich von Tag zu Tag immer mehr durch die Adern meines Körpers zog. In solchen Momenten fragte ich mich oft, ob mich jemals jemand verstehen würde? Viele versuchten es ja nicht einmal. Jeder sah nur das Mädchen, dass ihre Eltern bei einem Autounfall verloren hatte. Ich war in den Augen der Gesellschaft nie mehr gewesen als "dieses Mädchen", dessen Vergangenheit man am besten totschweigen sollte. Der Gedanke an meine Eltern machte mich traurig. Was wäre ich auch für ein Mensch, wenn es dieser nicht tun würde ...

Ich konnte nie verstehen, warum dieser Mann im Lkw betrunken nach Hause fahren musste und so meine Eltern mit in den Tod riss. Es war eigentlich ein ganz normaler Abend. Wir waren gerade auf den Weg zu meiner Tante, bis plötzlich grelle Lichter auf unserer Fahrbahn auftauchten. Ich schrie. Es krachte. Alles passiert in Zeitlupe. Ich kann mich nur daran erinnern, dass meine Mutter noch nach meiner Hand griff und sie fest an sich drückte.

"Es wird alles gut, mein Schatz..."

Ab diesem Zeitpunkt wurde alles schwarz.

Erinnerung schmerzen, denn sie sind das Tor zur Seele, dachte ich mir und ließ meine Finger sanft über das rote Amulett gleiten, welches mir meine Mutter mit letzter Kraft anvertraut hatte, bevor sie in meinen Armen verstarb.
Jede Rettung kam zu spät. Ich spürte, wie sich ein stechender Schmerz in meiner Brust breit machte, meine Kehle schnürte sich zu, sodass nur noch ein Seufzer meine Lippen verließ. Alles was blieb, waren die Erinnerungen, die Momente, in denen wir zusammen lachen und weinen konnten. Doch über die Jahre verschwimmen diese Erinnerungen immer mehr ineinander und enden letztendlich in dem weiten Ozean der Vergangenheit.

Meine Gedanken wurden durch die Wärme der letzten Sonnenstrahlen unterbrochen, welche durch die zerkratzen Scheiben der Bahn genau in mein Gesicht fielen. Es war lange her, dass ich so einen schönen Sonnenuntergang gesehen habe. Sonst war London eher trist und verregnet, doch an diesem Tag fühlte es sich an, als hätte ein Künstler längst vergangener Zeit den Himmel als Leinwand benutzt.

"Ich träume schon wieder zu viel", dachte ich mir und ein kleines Lächeln entfaltete sich auf meinen Lippen. Mein Blick fiel erneut auf das zerkratze Fenster, an dem ich nun schon eine Weile saß. Doch diesmal sah ich keine Landschaft, keinen Sonnenuntergang, nein, ich blickte direkt in die dunkelgrünen, gläsernen Augen eines Mädchens, welches in den Ketten ihrer eigenen Vergangenheit gefangen war. Ihr dunkelblondes, langes Haar hatte sie sich an diesem Morgen eilig zu einem Dutt zusammengebunden, da sie wie immer fast verschlafen hatte. Ich würde mich wohl nie ändern ...

Mein Spiegelbild vermischte sich nun immer mehr mit dem strahlenden Rot der untergehenden Sonne, bis es letztendlich verschwand. Stattdessen tauchte hinter mir plötzlich eine Person auf, die ihre Hand auf mein Schulterblatt legte. Eine vertraut wirkende Stimme ertönte, ich erschrak und wurde nun endgültig aus meiner Gedankenwelt gerissen.

"Du hier? Das gibt es ja gar nicht, dass du dich mal von deinen Büchern lösen könntest, hätte ich beim besten Willen nicht erwartet."

"Oh nein, bitte nicht...", murmelte ich leise in mich hinein. Ich drehte mich langsam um und blickte, wie vermutet, direkt in die verlogenen Augen von James Dorsten.

Ich konnte nie verstehen, was die Mädchen in meiner Universität an ihm so toll fanden. Ich meine, er war das Klischee schlecht hin. Große Statur, blonde Haare, blaue Augen und dazu noch ein Ego, was größer nicht sein könnte. Wenn es nach ihm ginge, würde er sich wahrscheinlich den ganzen Tag selbst im Spiegel bewundern. Er hatte nichts im Leben selbst erreicht. Alles, was er bisher errungen hat, verdankte er eigentlich seinen großzügigen Eltern, die das komplette Gegenteil seiner Persönlichkeit verkörperten.

James redete oft schlecht über sie und war für nichts dankbar.
Allein sein Kunststudium hatte ein halbes Vermögen gekostet. Doch die Kunst konnte ihn nie begeistern und so brach er es bald ab. Wir hatten uns schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen ...

"Ach Rose, du bist also immer noch die Träumerin geblieben?"

Er schmunzelte und schaute mich erwartungsvoll an. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich vor lauter Erstaunen über sein plötzliches Erscheinen noch kein einziges Wort gesagt hatte.

"Hey James...", allein diese Worte fühlten sich einfach nur falsch an.

Ich versuchte mein verkrampftes Lächeln aufrecht zu halten und schaute ungeduldig auf meine Armbanduhr. Ich war nie wirklich gut darin mit Leuten, von denen ich wusste, dass sie zwei Gesichter hatten, eine sinnvolle Konversation zu führen.

Seit der Geschichte mit Jessica, meiner besten Freundin, sah ich James sowieso mit anderen Augen. Er war ein falscher Mensch, der sich das Recht rausnahm, eine Frau gegen ihren Willen zu begrapschen. Zum Glück kam ich an diesem einen Tag etwas früher von der Uni und konnte so Schlimmeres verhindern.

Seit diesem einen Abend hat Jessica Panik, allein auf die Straße zu gehen, aus Angst, ihr könne dasselbe erneut passieren. Sie traut keinen Mann mehr über den Weg und ist in ihrem eigenen Albtraum gefangen. Alles nur wegen eines "Mannes", der dachte, dass der Reichtum seiner Familie ihm die Erlaubnis geben würde, meine Freundin zu belästigen. Das Schlimmste ist, dass er mit dieser Aktion unbestraft davonkam. Reiche Eltern, gute Richter- was hatte man von der heutigen Gesellschaft noch zu erwarten. So etwas wie Gerechtigkeit gab es nie und wird es auch nicht mehr geben.

"Dass DU dich nach der ganzen Sache überhaupt noch traust, mit mir zu reden. Weißt du eigentlich, was du Jessica angetan hast? Wegen dir hat sie nur noch Albträume und verkriecht sich schon seit Wochen in ihrem Zimmer. Wie kann nur so selbstsüchtig sein. Wenn du ihr dich noch einmal näherst, dann bekommst du große Probleme."

Ich spürte, wie sich die Wut in meinem Körper breit machte und sich meine Hände langsam zu einer Faust beulten. Für mich war Jessica wie eine Schwester, die ich nie hatte. Nach dem Tod meiner Eltern war sie immer für mich da. Ich würde jetzt also auch für sie da sein, denn das macht eine wahre Freundschaft aus...

"Sie hat sich mir ja förmlich angeboten. Eigentlich habe ich ihr damit nur einen Gefallen tun wollen", entgegnete mir James mit einem schmutzigen Lächeln, als wäre das alles nur ein Witz für ihn.

Ich konnte nicht glauben, dass er das gerade wirklich gesagt hatte. Ich versuchte meine Wut unter Kontrolle zu halten, da legte er plötzlich seine Hände um meine Hüfte. Ich wich zurück und schrie ihn unbeabsichtigt laut an: "Nimm deine dreckigen Hände von mir. Du widerst mich an."

Plötzlich ertönte eine andere Stimme, die mir fremd, aber auf eine gewisse Art und Weise vertraut schien.

"Gibt es ein Problem Madam?"

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