Kapitel 2 - Geborgenheit

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Erschrocken drehte ich mich um und blickte in die tiefschwarzen Augen eines Mannes. Noch nie zuvor hatte ich solche geheimnisvollen Augen gesehen. Sie vereinten die Farben der Nacht, aber auch das satte Rot der untergehenden Sonne in sich. Es war eine perfekte Harmonie aus Licht und Schatten, die ein Gefühl von Hoffnung und Geborgenheit in mir aufkommen ließen. Unsere Blicke trafen sich nur kurz, dennoch fühlte es sich an, als wäre die Zeit für einen Augenblick stehen geblieben.

Am liebsten hätte ich mich in den endlosen Weiten seiner Augen verloren, doch die Stimme von James riss mich schlagartig aus meiner Gedankenwelt und zerrte mich wieder in die Realität zurück.

Ich konnte die Unsicherheit förmlich spüren, die sich in James breitmachen musste. Eingeschüchtert von der Situation trat dieser vorsichtig ein paar Schritte zurück und versuchte sich auf seinen zittrigen Beinen zu halten, dabei stotterte er:

"Wir, äh, haben alles im Griff, Mister. Ich wollte sowieso gerade gehen, ich habe heute Abend noch einiges vor und äh, naja, also ... "

Der Fremde trat zuerst näher auf mich zu und machte den Anschein, als wolle er mich vor den schmutzigen Gedanken von James beschützen. Behutsam ging er an mir vorbei, dabei berührte er versehentlich meine Hand. Ich erschrak, denn seine Hände waren eiskalt. Noch bevor ich länger darüber nachdenken konnte, bemerkte ich, wie der mysteriöse Mann auf James zu ging, um anschließend abrupt vor seinem Gesicht zu stoppen. Langsam beugte er seinen Oberkörper zu James hinab und flüsterte ihm leise etwas in sein Ohr.

"Es wäre besser, wenn du jetzt gehst, bevor noch ein Unglück passiert."

Ich war mir sicher, dass er noch einiges mehr zu ihm gesagt haben musste, denn James lief auf einmal kreideweiß an, schnappte seinen Rucksack und ergriff schlagartig die Flucht.

"Es ist alles gut Madam, ich glaube nicht, dass er sie noch einmal so schnell belästigen wird. Was ist nur über die Jahrzehnte mit den Menschen geschehen. Es gleicht eher einer traurigen Entwicklung als einem gelungenen Fortschritt."

Ich schmunzelte bei seinen Worten und sagte: "Ich weiß gar nicht, wie ich mich bei Ihnen bedanken kann. Es ist ja schließlich nicht selbstverständlich, dass sich jemand in der heutigen Zeit für eine Person einsetzt, die er selbst nicht einmal kennt."

"Sie brauchen sich für nichts zu bedanken, Madam, das ist für mich ein Zeichen der Selbstverständlichkeit.", erwiderte er und ging dabei langsam auf mich zu."

Mein Atem stoppte, als er mich wieder mit seinen tiefschwarzen Augen anblickte. Es überkam mich auf einmal ein unbehagliches Gefühl, als würden mir seine Augen einen Einblick in seine Seele gewähren. So spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz tief in meiner Brust. Ein Schmerz, der die Melancholie des Seins mit den Erinnerungen der Vergangenheit vereinte. Reue, Verlust, aber auch die Sehnsucht danach endlich verstanden zu werden, all das konnte ich für einen kurzen Moment in meinem Herzen spüren.

Was musste dieser Mensch erlebt haben, dass er mit diesem Schimmer der Verzweiflung in den Augen durch das Leben schritt und trotzdem so viel Courage besaß, einer Fremden zu helfen?

Mein Blick fiel nun auf die kleine, vergilbte Anzeigetafel, links über mir.

»Gleich da.«, dachte ich mir.

"Ich muss mich nun leider schon verabschieden, da ich an der nächsten Haltestelle aussteigen muss. Ich danke Ihnen von ganzen Herzen und wünsche das Allerbeste für Ihre Zukunft."

Ich merkte, wie sich seine Mimik schlagartig veränderte. Er biss sich sanft auf seine Lippen, als wolle er vermeiden, dass unbedachte Worte diese verließen. Dabei kamen zwei auffällig spitze Schneidezähne zum Vorschein.

"Wissen Sie, Ihre Stimme verleiht mir wieder Träume und vor allem Hoffnung. So etwas habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt und glauben Sie mir, die Ewigkeit ist eine endlose Spirale der Verzweiflung."

Verwundert, aber mit einem Lächeln schaute ich ihn an, denn mit diesen Worten hatte ich nicht gerechnet. Ich merkte, wie das Blut langsam in meine Wangen strömte und diese mit einem zarten Rot der Verlegenheit untermalte. Im Raum lag plötzlich eine wunderbare Stille. Eine Stille, die schon bei dem kleinsten Geräusch in tausende Teile zu brechen drohte. Noch bevor ich etwas auf seine Worte erwidern konnte, bemerkte ich, wie die Bahn abrupt stoppte und sich mein Gewicht schlagartig nach vorne verlagerte. Es riss mir förmlich den Boden unter den Füßen weg und ich verlor schlussendlich das Gleichgewicht. So bereitete ich mich gedanklich schon auf die harte Landung vor, doch zu meinem Erstaunen fand ich mich in den starken Armen meines mysteriösen Retters wieder. Abermals spürte ich die Kälte, die er selbst durch seinen dicken Mantel nicht vor der Außenwelt verbergen konnte.

Nicht nur seine Hände, sondern auch sein gesamter Köper schienen eiskalt und glichen den eisigen Temperaturen des Winters. Dennoch zog mich diese Kälte auf wundersame Weise an und ich versank weiter in seinen Armen. Dabei strich er mein verwirbeltes Haar aus dem Gesicht und ließ dabei seine Finger sanft über meine Haut tanzen. Für einen kurzen Moment verlor ich mich gänzlich in seiner sinnlichen Berührung, doch denn fasste ich wieder klare Gedanken, rappelte mich auf und versuchte meine Fassung wiederzufinden.

"Ich muss jetzt wirklich gehen, verzeihen Sie mir. Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.".

Hastig schnappte ich mir meine Tasche, die durch die vielen Bücher, sehr schwer war und ging zügig Richtung Tür. Doch irgendwas in mir sträubte sich gegen den Gedanken, diesen mysteriösen, aber auch charmanten Menschen mit diesem Schimmer der Verzweiflung in Augen, vielleicht nie wieder zu sehen. Ich schüttelte meinen Kopf, um diese Gedanken schnell zu verdrängen, doch es war vergeblich. Auch wenn es nur eine kurze Begegnung gewesen ist, hatte er mich auf eine gewisse Art und Weise, tief im Inneren meines Herzens berühren können. Ich trat nun aus der Bahn. Mein Blick fiel dabei auf das zerkratzte Fenster, an dem ich vorhin noch nichts ahnend saß. Ich erhoffte ihn wenigstens noch ein letztes Mal zwischen dem Gedränge der ein und aussteigenden Leute wiederzufinden, doch er war verschwunden.

Wie war das möglich? Stand er nicht noch bis zu diesem Augenblick an genau dieser Stelle? Mich durchfuhr ein stechender Schmerz der Reue. Wie gerne hätte ich die Unterhaltung fortgeführt oder mich zu mindestens ohne Hast und Eile verabschiedet.

»Verdammt«, dachte ich mir. Schließlich wusste ich ja nicht einmal seinen Namen. Wie sollte ich ihn also jemals in dem Labyrinth Londons wiederfinden? Langsam setzte sich die Bahn in Bewegung und setzte ihre Reise ins Ungewisse fort.

So entschied ich schweren Herzens, diese wunderschöne Begegnung hinter mir zu lassen und den Heimweg anzutreten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 01, 2021 ⏰

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