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Als ich nach Hause komme, flüchte ich mich die Treppe nach oben und stürme sehnsüchtig in mein Zimmer, wo mich die ersehnte Stille empfängt. Ich schließe meine Augen und wiege mich in diese Ruhe, die mich in Gedanken den ganzen Tag verfolgt hatte. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Auch, wenn ich ein schlechtes Verhältnis mit meinem Vater hatte, war diese ausbreitende Schweigsamkeit alles, was mich noch hier hielt. Wenn mein Vater mich nicht in Ruhe lassen würde, dann hätte ich mir schon längst einen anderen Ort für meine Gedanken gesucht, um sie fließen zu lassen. Zwar konnte ich allerorts meiner Denkkonsistenz nachhängen, aber weil mein Kopf eine Oase der Ruhe ist, sollte auch meine Umgebung dem gerecht werden. Ich öffnete meine Augen und ließ sie durch das Mobiliar schweifen. Die Wände meines Zimmer waren farblos, monoton und desolat. Mein Bett stand in der rechten Ecke, gegenüber mein Kleiderschrank und gleich neben mir mein Schreibtisch. Das große Fenster mit gegenüber ließ trotz der Vorhänge, die etwas zugezogen waren, genug Helligkeit zu, das diese mein Zimmer durchflutete. Viele würden meinen, dass ein Zimmer etwas heiliges ist, was die innere Seele widerspiegelte, doch bei mir war diese Behauptung deplatziert. Ich war nicht einfallslos, trostlos, stumpfsinnig oder phlegmatisch. Ich war das völlige Gegenteil, doch je bunter es um mich herum war, desto eintöniger waren meine Gedanken. Ich wollte mir selbst die Farbe und Nuancen fabrizieren, wie es viele mit ihrer Einrichtung taten. Die Umgebung sollte das leere Blatt sein. Eine ungefertigte Zeichnung, die ich entweder weiter zeichnen konnte oder die selbst das Kommando übernahm und mich sie zeichnen ließ. Mich interessierte vielmehr das Ergebnis, als eine vorgefertigte Vorlage, die mir all die schöpferische, ideenreiche Arbeit vorenthielt.

Hinter mir räusperte sich jemand und ich kehrte nur widerwillig in die Realität zurück. Ich wollte alleine sein und ich konnte nur hoffen, dass mich das, was mich gestört hat, genauso wieder schnell verschwinden würde. Ich seufzte und drehte mich um, denn ich wusste, was mich erwartete. Endos konnte es offensichtlich nicht erwarten, seinen Eltern die Mitteilung zu unterbreiten, wie aufmüpfig und renitent ich gegenüber ihm war. Nicht nur Fremde konnte er mit seiner manipulativen Art korrumpieren, auch seine Familie war ein Teil dieser abergläubischen Verschwörung.
Mein Vater stand mit seinem weißen  gekrempelten Hemd vor mir, die Stirn abweisend tief in Falten gelegt, als würde er nachdenken. Seine grünen Augen wirkten so verloren und leer und auch die Erschöpfung ließ sich durch seine kummervolle Miene erkennen. Er war schließlich nicht nur ein Mitglied im Rat, er auch ein Staatsanwalt, der fast jeden Tag seine Abwesenheit im Haus bekundete. Wahrscheinlich war es das, was unser familiäres Verhältnis belastete. Die kaum vorhandene Zeit, um unsere Tochter-Vater Beziehung zu vertiefen. Ich bin mit seiner geschäftigen, starren und distanzierten Art aufgewachsen und trotzdem spüre ich irgendwo tief in mir einen stechenden Schmerz und den Wunsch danach, einen Vater zu haben, der für mich da ist und nicht einen Mann, der sein Leben seiner Arbeit widmete. Es könnte daran liegen, dass wir zu unterschiedlich waren und deswegen eine unbefangene Kommunikation indiskutabel machte oder daran, dass er es gar nicht wollte, nachdem Vorfall vor zwei Jahren.
„Dad.", sagte ich leise und wartete, bis er sich von seinen abschweifenden Gedanken löste, um mich dann irritiert anzusehen, als versuchte er zu identifizieren, wer ich war und wo er sich befand. Da war keine Liebe, keine Geborgenheit und keine Freude, sondern nur sein abschätziger Blick, der das schmerzliche Ziehen in mir verstärkte. Ich ließ mir nichts anmerken, sondern wartete darauf, dass er mit seiner Tirade begann, damit wir es beide hinter uns bringen konnten. Genau das schien auch er zu wollen, denn er schüttelte den Kopf, ließ seine Arme baumeln, statt sie weiterhin zu verschränken, bis sich seine Miene verhärtete und ich hart schlucken musste. Es lag nicht daran, dass er eine autoritäre Person war, die ich respektieren musste, sondern vielmehr, dass keine Spur seiner väterlichen Liebe zu registrieren war. „Ich habe nichts Gutes über dich gehört.", da war er. Nicht diese zerstreute Person von vorhin, sondern diese herrische, frostige Haltung, die ich über alles verabscheute. Ich wünschte mir verdammt nochmal einen Vater und kein Geschäftsmann, der unsere Angelegenheit und Probleme kommerziell handhabte, statt sie als verständnisvoll anzugehen. „Ich werde mich nicht rechtfertigen.", sagte ich kalt und verschränkte meine Arme, um mir nichts von meiner Verwirrung und Trauer anmerken zu lassen, die ich in seiner Nähe viel zu oft verspürte hatte, als Zuneigung. „Es hat nichts mit Rechtfertigung zutun, Cosima! Verdammt nochmal, deine Schullaufbahn und deine Karriere stehen schon auf dem Spiel, willst du mehr riskieren? Willst du meinen Ruf und mein Sozialprestige und das deine verwirken? Willst du verbannt werden-„, während er all das herunterratterte und nicht meine Unruhe und meinen ansteigenden Zorn zu bemerken schien, versuchte ich mich zurückzuhalten, um ihm nicht die selben Vorwürfe zu unterstellen, die er unumwunden und ungerührt von sich gab. Äußerlich war ich ruhig und unnahbar, doch innerlich wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich genauso wie er, über all das hier auszulassen. Und je mehr er sich in Rage redete, desto mehr schien sich mein Inneres allmählich nach außen zu wenden, was ich nur mühsam verhindern konnte. Ich wollte nicht durch meine Körpersprache meine verborgenen Gefühle eklatant machen und schon gar keine Angriffsfläche, an die er sich bereichert hätte. Ich wusste, dass Menschen ihre Emotionen nicht immer unter Kontrolle halten konnten und dass sie wankelmütig waren, schließlich war genau das menschlich und wenngleich ich mich für andere einsetzte, damit ihre Fehler nicht verurteilt wurden, so verurteilte ich mich für meine. Ich wollte sie so gut verstecken, dass überhaupt niemand, wirklich keiner mein wahres Gesicht zu sehen bekam. Ich mühte mich so ab, eine Rolle zu spielen, dass ich nicht mehr ich selbst sein konnte. Es war irgendwo unter all den Schichten der Maske, die in den Jahren dichter wurde und mehr Lecks hatte, als ich überhaupt zählen konnte.
„Verstehst du es?", beendete er verzweifelt seinen Redeschwall, um das alles bei mir sacken zu lassen. Aber genauso wie ich, wusste er, dass ich es niemals verstehen würde. Ich würde niemals dafür Verständnis bringen, wenn dies bedeutete, dass ich mich weniger verstehen würde. Ich möchte mich nicht in seine Lage versetzen und seine Worte inspizieren. Ich wollte ihn nicht verstehen, auch wenn ich so gerne ein Teil von deiner Welt wäre, von der er mich ausschließt, weil ich nicht dazu gehöre. Es tat weh, von ihm geächtet zu werden. Enttäuscht von seiner Tochter, die wie er hätte werden sollen. Aber, wenn ich nicht ich sein konnte, unter all diesen Menschen, die darauf warteten, dass ich aus der Reihe tanzten, dann wollte ich auch nicht jemand sein, der meinen ethnischen ambivalent war. „Was ist es wirklich? Sorgst du dich um mich oder hast du nur Angst, genauso wie ich ein Ausgestoßener zu werden? Wieso reden wir überhaupt miteinander und simulieren eine perfekte Familie, wenn nichts davon den Anschein hat, dass wir es sind?", ich ging auf keine seiner verletzenden Argumente ein. Wenn mir etwas unangenehm wurde, mir aber meine Gelassenheit nicht abhandenkommen sollte, dann stellte ich ausweichende Fragen, die meinen Gegenüber in den Vordergrund rückten und mich akzessorisch werden ließen. Ich wollte damit keine Schwächen lokalisieren, um dann anzugreifen, sondern von meinen eigenen ablenken und meist klappte das gut.

„Du bist meine Tochter. Natürlich mache ich mir Sorgen. Ich will so sehr, dass du dazu gehörst, dass ich alles tue, um deinen Ruf zu bereinigen. Auch, wenn du in mir nur den Mann siehst, der dich nach ihrem Tod alleine gelassen hat." „Erwähn' sie nicht.", murmelte ich bestimmt, um das Zittern in meiner Stimme zu vertuschen. So langsam bröckelte die Fassade und das machte mir fürchterliche Angst. Ich musste so schnell wie möglich hier weg. „Ich habe so genauso wie du geliebt und sie fehlt mir. Auch, wenn sie wegen dir nicht mehr da ist, lasse ich dich unter meinem Dach wohnen und nenne dich meine Tochter, weil sie es so gewollt hätte. Meine Fürsorglichkeit jedoch ist nicht imitiert, Cosima. Sie hat immer zu dir gehalten und ich wünschte, ich könnte dir das geben, was sie für dich geopfert hat. Aber ich kann es nicht. Ich kann nur meine Pflicht als Vater erfüllen und auf dich aufpassen.", mein Herz rast, meine Hände zittern, die ich unter meinen verschränkten Armen verschränke und Tränen sammeln sich in meinen Augen, die ich bislang immer wieder fortgeschickt hatte, weil ich mich von diesem Schmerz nicht überwältigen lassen wollte. Alles in mir schrie danach, meine Wut an meinem Vater auszulassen, ihm genauso Beschuldigungen unterzujubeln und meine Gefühle zu fühlen, wie es jedem anderen vergönnt ist. Aber ich kann es nicht. Ich kann diese Maske nicht einfach in Sekunden ablegen, die sich in den Jahren manifestiert hat, auch wenn ich schwache Momente wie diese habe, wo es erforderlich wäre. Ich kann nicht, egal wie befreiend es wäre, weil ich mich danach schlecht fühlen würde.

Du bist aber auch ein Mensch mit Fehlern.

Meldet sich eine Stimme in mir, die alle meine aufwirbelnden Gefühle potenziert und es mich noch mehr Mühe kostete, nicht alles an Tränen rauszulassen, was ich verdrängt habe. Komm schon, er wird gleich verschwinden und dann kannst du loslassen. Niemand wird dich verurteilen, nur dir ist es gewährt., sage ich mir mantrahaft, bis all das in den Hintergrund rückte und mich darauf konzentrierte, diese Sätze zu internalisieren.

„Du solltest gehen. Ich habe noch viel vor mir und ich muss morgen rechtzeitig einen Aufsatz abliefern.", ich krallte mich an meine Tür und bat ihn mit einer auffordernden Handbewegung, mich alleine zu lassen. Zögernd leistete er Folge. Er warf mir noch einen letzten Blick, der besagte, dass ich mich für mein Wohlergehen, zusammenreißen und über das nachdenken sollte, was er gesagt hatte. Ich würde nichts dergleichen tun, sondern mich auf das fokussieren, was wichtig ist. Meine eigenen Ziele zu verfolgen und mich von niemandem davon abbringen lassen, inessenziell, wie viele mich dafür diffamieren oder verschmähen würden. Ich wollte um keinen Preis aufgeben und mich mit einem Platz in der Gesellschaft zufrieden geben. Ich würde mir meinen eigenen erkämpfen, auch wenn ich die Gunst von jedem gegen Missgunst eintauschte.
Ich mache die Tür leise zu, um kein Anzeichen von meiner Ranküne und meiner Trauer zu geben. Doch sobald mir das klickende Geräusch der Tür gewährleistete, ungestört zu sein, fiel meine Mauer, dessen Ziegelsteine sich nacheinander um mich herum chaotisch stapelten. Obwohl ich mich von dieser schwindenden Plackerei befreit fühlen sollte, spürte ich nur die unaufhaltsamen Tränen und eine unendliche Trauer, die mich von innen heraus fraß. Ich wollte jeden Ziegelstein von Neuem nacheinander aufbauen und eine erneute Blockadehaltung etablieren, doch jedes Mal, wenn ich soweit kam, brachen diese wieder übereinander. Gehörten meine Mauer und meine Maske nun schlussendlich der Vergangenheit an und musste ich ohne sie in der Gegenwart funktionieren? Oder wartete die Mauer darauf, bis ich endlich realisierte, dass ich mich nicht an ihre kalten Steinmauern lehnen konnte, weil sie mir alles andere als Wärme spendeten?
Je mehr ich bei ihrem Wiederaufbau scheiterte, desto mehr versank ich meinem Elend, bis meine Brust schmerzte und ich nur noch nach Luft rang. Ein schmerzerfüllter Schrei bannte sich meine Kehle hoch, doch ich schluckte ihn sofort wieder herunter, weil es mir Angst hatte, meinem Schmerz endgültig ausgeliefert zu sein. Ich konnte nur stumm vor mich hin weinen und nach jeder Träne, die nicht das Ende meiner Drangsal verkündete, wurde mir bewusst, dass ich viel zu lange jemand gewesen war, der nicht nur den Menschen etwas vortäuschte, sondern sich selbst.

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