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Nachdem erst nach Stunden meine Tränen versiegt waren, hatte ich mich erschöpft schlafen gelegt, weil meine Augen zu müde waren, von der Emsigkeit, die sie nicht gewohnt waren. Wenn ich lange nicht geweint hatte, dann taten sich meine Augen schwer damit, der zurückgedrängte Flüssigkeit, resistent zu bleiben. Als ich aufgewacht war, hatte sich eine eisige Kälte über mein Herz ausgebreitet, der ich nur mit Mühe widerstehen konnte und der ich dann nach gab. Sie kam mir gelegen, nach meinem Versuch, sie wieder zu erlangen, der in eine Niederlage endete. Diesmal würde ich mich darauf gefasst machen müssen, dass es das nächste mal genauso schlimm oder schlimmer ausarten werden könnte. Solange ich jedoch im Gegenzug eine Auszeit von dem Gefühlschaos bekomme, werde ich mir erst dann wieder Gedanken darüber machen, wenn es wieder Zeit wird.
Mit wackeligen Beinen und nebeligem Kopf setzte ich mich auf und sammle meine nächsten Kräfte, für meine Kondition, um es bis ins Bad zu schaffen. Ich hatte vergessen, dass unterdrückte Gefühle nicht nur der Seele schaden, sondern auch dem Körper an Tüchtigkeit rauben, die schwer zu erlangen ist. Die einhergehenden, kontraproduktiven Aspekte, der Gefühlsunterdrückung, waren in der Mehrzahl. Um ehrlich zu sein, sah ich keinen Vorteil darin, alles in mich hineinzufressen, aber meine Angst, vor der Konfrontation mit meinen Beschwernissen, überwog und machte alles zunichte, was sich für mich als abträglich herausstellte.
Ich stand auf, hielt mich kurz an der Säule meines Bettes fest, als sich alles um mich herum drehte. Während ich mich erholte und um mein Gleichgewicht rang, konnte ich mir einen Blick im Spiegel nicht verkneifen. Dunkle Augenringe und ein zerbrechlicher Körper blickten zurück. Ich wäre fast erschrocken zusammengezuckt, wenn ich nichts so fertig gewesen wäre. Im Moment scheint auch das mir egal zu sein, denn alles, was ich will, ist, den gestrigen Abend zu vergessen. Ich hatte mein Vermeidungsverhalten, was meine Gefühlslage anbelangt, so gut perfektioniert, dass auch das mir nicht schwer fallen würde. Ich schauderte, als ich mich an meine zusammengesunkene Gestalt am Boden erinnerte. In mir hatte sich eine Leere ausgebreitet. Ganz anders als die, die ich verspürte, um meine Maske aufrechtzuerhalten. Es schien, als wäre sie etwas, womit ich zeitlebens leben müsste und nichts zu fühlen, war furcherregender, als eigenständig und freiwillig, alles zu unterdrücken, was mit meiner wahren Identität gemein hatte.

Als ich mir in der Küche etwas zu Essen bereiten wollte, um meinen Magen zu füllen, tauchte mein Vater auf, um es mir gleich zu tun. Er hatte einen schwarzen Anzug an und schien gerade seine Krawatte zurecht zu rücken. Es wunderte mich, welch eine Gelassenheit er an den Tag legte, nachdem Vorfall von gestern, wo uns beiden mehr als einmal offenkundig geworden war, dass wir weit davon entfernt waren, zusammen als Familie zu harmonieren. Wir sprachen weder darüber, noch nahmen wir Blickkontakt auf, um zu erahnen, was in den jeweiligen vor sich ging. Die dadurch entstandene Stille, war unangenehm. Es lag so viel Unausgesprochenes in ihr, obwohl es nichts zu bereden gab. Nur das Klirren von meiner Schüssel und das Rascheln seiner Zeitung wagten es, sie zu unterbrechen und dennoch war es nicht genug, um dieser Schweigsamkeit die Kühlheit und das Unangenehme zu entziehen.
Wir saßen schweigend da. Er trank seinen Kaffee und ich kaute lustlos auf meinem Cornflakes herum, das immer matschiger wurde, je länger ich es in meinem Mund behielt. Ich schluckte es hinunter, nur um die selbe Prozedur zu wiederholen. „Ich bekomme einen Assistenten. Er wird sich hier im Haus aufhalten, während ich auswärts arbeite. Er wird Telefonate in meinem Büro entgegennehmen und sich um die anfallenden Papiere kümmern. Es wäre gut, wenn du ihn hier herumführen würdest.", verkündete er mir tonlos mit, als wäre es etwas beiläufiges und nichts, das einer weiteren Erklärung bedarf. Ich ließ meinen Löffel klirrend in die Schüssel fallen. Die Oberfläche von der Milch bewegte sich, bis sie sich wieder beruhigte und ich ihr meine Aufmerksamkeit entwendete. „Du willst einen Fremden in unser Haus lassen? Mit mir allein?", er schaute von seiner Zeitung auf und zog eine Augenbraue in die Höhe. Diesmal verlangte er, dass ich meine begonnene Befürchtung weiter ausführte und ignorierte es, dass auch nach einer verlangte. „Cosima, dir ist bewusst, dass wir nicht in Blackhood sind? Niemand wird etwas gegen deinen Willen tun oder dich auf irgendeine Art und Weise verletzen. Umsonst wurden wir nicht von jene separiert, die genau das vor hatten.", sagte er in seinem besserwisserischen Ton und mich beschlich das Gefühl, als ob er sich über meine Unwissenheit amüsierte. Mir war durchaus bewusst, welche Menschen sich auf welcher Seite befanden, trotzdem misstraute ich Fremden, denn auch wenn sie nicht von der Blackhood waren, hätte es gut sein können, dass auch sie nicht fehlerfrei sind. Böse Absichten können jederzeit entstehen oder schon entstanden sein und gut vertuscht werden. Für mich differenzierten sich die Menschen von hier sowieso nicht von der Blackhood.
„Du hast Recht. Die Menschen in Blackhood sind genauso wenig perfekt, wie wir.", erinnere ich ihn daran. Es sollte keine Provokation oder eine Instruktion sein, aber ich hielt für wichtig, mich auch hier für eine unterprivilegierte Minderheit einzusetzen. Mein Vater schlug mit seiner flachen auf den Tisch, dass meine Schüssel kippte und die Milch sich ihren Weg bis zum Rand bahnte, nur um dann unten in eine Pfütze zu tropfen, die immer größer wurde. Ich zuckte geschockt zusammen und kniff kurz meine Augen, weil ich ihn noch nie so erlebt hatte. Er wurde zwar oft laut und hitzig, aber diese Art, wie er seine gekippte Stimmung ausdrückte, gefällte mir nicht. „Es reicht. Du beschmutzt unsere Stadt und das, was wir aufgebaut haben, nur um deinen Kopf durchzusetzen. Was ist es? Rebellierst du gegen mich? Versuchst du die Aufmerksamkeit zu bekommen, die du nur von ihr bekamst? Was zur Hölle geht in deinem Kopf vor!", brüllte er und zerknüllte die Zeitung in seiner Hand. Wieder spürte ich diesen Schmerz, tief in mir. Diesmal aber erschütterte ihre Erwähnung meine Mauer nicht, sondern sie prallte an ihr ab und blieb am Boden liegen, wie all die Gefühle und Worte, die den Menschen dienlich gewesen waren, um mir wehzutun. Ich blieb ruhig und gefasst und das machte ihn zunehmend cholerisch. Jetzt stand er nämlich auf, packte die Holzbeine des Tisches und er landete mit einer Wucht gegen dich Wand, dass ich entsetzt von dem Möbelstück zu ihm schaute. Was war nur in ihn gefahren?! „Sag etwas! Rede mit mir, streite oder diskutiere, aber schaue nicht verdammt nochmal über mich herab, als wärst du besser als wir alle.", er atmete hektisch ein und aus, bis sich seine Atmung langsam normalisierte und ich immer noch schweigend das Geschehen beobachtete. Ich würde ihm nicht das geben, was Endos jedes Mal von mir verlangte. Ich würde es niemandem leicht machen, diese Mauern zu durchdringen, ohne meine Einverständnis. Da konnte die Wut meines Vaters noch gefährlicher oder bedrohlicher werden, meinen Schutzmechanismus werde ich trotzdem aufrechterhalten. Er war das, was mich im Leben weitermachen ließ und von den Sorgen, dem Schmerz meiner Vergangenheit und den gegenwärtigen Problemen übermannt zu werden. Ich starrte die Verwüstung um mich herum an, um meinen Vater und seinen besorgniserregenden Wutausbruch auszublenden. Die Schüssel lag irgendwo hinter mir und schepperte immer noch, bis ihr Klirren nachließ und sie zum Erliegen kam. Die Milch lag nun über alles verstreut und machte der kleinen Pfütze von vorhin Konkurrenz, denn nun hatte sie eine größere Form angenommen. Der Kaffee meines Vaters verdunkelte die Fliesen und vermischte sich mit der weißen Flüssigkeit, die heute noch mein Frühstück gewesen war.
Als ich mir diesen Sinneseindruck ausreichend eingeprägt hatte, wanderte mein Blick vorsichtig zu meinem Vater. Erst traute ich mich nur seinen Oberkörper anzustarren, während ich mich darauf gefasst machte, ihm in die Augen zu schauen. Ich hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Er blickte mich weder kalt, enttäuscht oder missbilligend wie immer an. Nein. Jeder Schimmer ist aus seinen Augen gewichen, während sich glanzlose Trostlosigkeit dort bequem machte und mein Herz schmerzhaft zusammenschrumpfen ließ. Wir hatten zwar kein gutes Verhältnis und bislang kein nettes Wort miteinander gewechselt und trotzdem traf mich sein deplorabeler Zustand mitten ins Herz, das ich nur mühsam von mir fern halten konnte.
„Dad... Ist alles okay?", krächzte ich leise und räusperte mich, um zu verhindern, dass meine Stimme noch mehr tränenerstickt klang. Ich wollte wütend auf ihn sein. Wegen dem, was er mir gestern an den Kopf geworden hatte und die weiteren Male, seitdem dieser Vorfall geschehen war und unsere familiäre Atmosphäre zersplitterte. Ich hätte die sein müssen, die enttäuscht war, weil er nie für mich da war. Weil er jede Gelegenheit nutzte, um mich zu beschimpfen und zu tadeln, statt mich einfach in den Arm zu nehmen und mich seine Liebe spüren zu lassen. Ich schluckte all die damit verbundenen Gefühle, wie Frust, Ohnmacht, Kälte, Enttäuschung und Jähzorn herunter, weil dies nicht der richtige Zeitpunkt war. Es war nie der richtige Zeitpunkt und auch, wenn es das gewesen wäre, hätte ich nicht hinreichend Mut gehabt, um mich all dem zu stellen.
Er seufzte tief und setzte sich auf den Boden. Weit weg, von dem ganzen Chaos in der Küche, auf eine sauberen Fläche, wo er sich von der Last durchfluten ließ. Als hätte sein Körper nur darauf gewartet, all das nach außen zum Vorschein zu bringen, da sein Inneres zu voll damit war, um es noch lange drinnen zu halten. „Es tut mir leid...", murmelte er und schüttelte irritiert seinen Kopf. Er schien verwirrt über diesen Wutanfall zu sein. Anscheinend hatte er selbst mit diesem Ausbruch nicht gerechnet und nicht einkalkulieren können, was als Nächstes passierte. Ich wusste, was er in diesem Moment brauchte, auch wenn er es niemals laut aussprechen würde. Auch, wenn der Gedanke daran, bei mir ein mulmiges Gefühl auslöst und ich einen großen Schritt in dieser zertrümmerten Beziehung wagen würde. Nur ich konnte es ihm geben, auch wenn wir beide am Liebsten darauf verzichtet hätten.
Langsam erhebe ich mich von meinem Stuhl, schleiche zu ihm, mit zaghaften Schritten. Ich bin so auf das konzentriert, was gleich passieren wird, dass ich erschrocken zusammenzucke, als ich über die Tasse stolpere und mich gerade noch auf den Beinen halten kann. Tief einatmend und aus meinen Gedanken gerissen, setze ich meinen Plan fort. Er schaute starr gerade aus und schien sich nicht für mein Vorhaben zu interessieren. In seinem Blick lagen Tränen und die Erschöpfung kam immer mehr zu Geltung, je mehr ich mich ihm nährte. Als es soweit war, setzte ich mich auf den Boden zu ihm, mit ausgestreckten Beinen. Ich spürte die durchdringende Kälte unter mir und war ihr dafür dankbar, denn sie wappnete mich für das Kommende. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, wie er reagieren würde und was das für uns beide bedeutete, griff ich vorsichtig nach seiner Hand und verhackte sie mit meiner. Sie war warm und wenngleich diese hauchzarte, fast belanglose Berührung, nicht viel war, schenkte er mir etwas von seiner Körperwärme, die sich zunehmend intensivierte, je länger ich ihn berührte. Sie durchströmte meinen ganzen Körper und innerlich ließ sie einen Bruchteil meines Wunsches nach Geborgenheit in Erfüllung gehen. Um das zu genießen, lehnte ich meinen Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Er schien sich ebenfalls etwas zu entspannen. Wo noch zuvor seine Hand verkrampft war, lag sie nun ruhig und gelassen in meiner. Ich wusste zwar nicht, was die Entstehungsursache seiner unkontrollierten, impulsiven Grundstimmung war, aber ohne darüber zu reden, schien dieses Beisammensein das zu bewirken, was auch mit einem Gespräch die gleichsam Wirkung erzielt hätte.
Die Stille schien ihn gut zu tun und das zu sein, was er gerade brauchte, also stellte ich weder Fragen, noch hackte ich beharrlich danach. Ohne zu wissen, was gerade geschehen war, sah ich ihn aus dem Augenwinkel an. Sein Kopf war gesenkt, seine Haare stand wild in alle Richtungen ab und seine Schultern hingen, als wäre er bekümmert oder als würde er sich für das, was gerade vorgefallen war, schämen. Am Liebsten hätte ich ihm Zuspruch zuteil werden gelassen. Ihm gesagt, dass es okay war, dass seine Scham unbegründet war, dass es gut war, nichts zu unterdrücken. Nicht die selbe Variante zu präferieren, die ich nutzte, um all das von mir fernzuhalten. Ich blieb aber still, denn es würde vielleicht sein Schamgefühl vertiefen, weil ich immer noch in Gedanken repetitiv das Geschehen und seine wutentbrannte Reaktion abspielte.
Langsam hob er den Kopf, atmete tief durch und schloss seine Augen. Als er sie öffnete, wanderte sein Blick zu unserer innigen Berührung, als würde er erst jetzt bemerken, wie nah wir uns waren. Als wäre er nicht wirklich da gewesen, weit weg, als ich mich ihm genährt und seine Hand umschlossen hatte.
„Danke..", murmelte er verwirrt und runzelte die Stirn. Sein Blick glitt über das Chaos, das er verursacht hatte und in seinem Blick lag Schuld und Reue. Pflichtbewusst schüttelte er seinen Kopf und gab mir zu verstehen, dass es ihm leid tat. Erleichterung breitete sich in mir aus, denn statt, dass es sich zu einer Gewohnheit manifestierte, wurde ihm bewusst, dass dies nicht nochmal vorkommen durfte. Doch seine Gefühle benötigten ein Ventil und dieses war wohl die Art gewesen, wie er es handhaben konnte. Dieser Moment kam mir si absurd und abstrakt vor, denn es war das erste mal nach langem, seitdem wir wirklich beisammen waren, ohne uns zu streiten oder uns mit Schuldzuweisungen zu überhäufen. Ich wollte ihn genießen, aber ich konnte es nicht, denn ich wusste, dieser Augenblick war nicht von Dauer. Er würde mich niemals so trösten oder in den Arm nehmen, wie ich es jetzt bei ihm tat.
Ich ließ seine Hand los und begann, die Unordnung um uns herum aufzuräumen. Stille legte sich über den Raum, die keiner von uns wagte zu unterbrechen. Keiner von uns sagte etwas. Nach einer Weile stand er auf, richtete seinen Anzug und verschwand wortlos durch die Tür, als wäre dieses Geschehen nie passiert und als wäre nicht ich diejenige gewesen, die immer noch darunter litt, weil ich ihn nicht einschätzen konnte. Weder in der Rolle als Vater, noch als Anwalt, Senator oder als Menschen. Er war mir vollkommen fremd. Wir lebten im gleichen Haus, stammten von der selben Gene und teilten eine prekäre Vergangenheit miteinander, doch nichts von dem kam einer Verbundenheit gleich. Auch, wenn es schien, ich hätte die Hoffnung für eine Familie aufgegeben, zerbrach sie jetzt endgültig und ich lag vor dem Trümmerhaufen dieser Hoffnung, die mich spöttisch anfunkelte und selbst darauf hoffte, ich würde sie zusammen flicken, nur damit sie wieder auseinanderfiel und sie es mir heimzahlen konnte, weil ich selbst die Hoffnung nicht mehr wagte zu hegen.
Ich funkelte zurück, ging und ließ sie dort liegen, wo sie hingehörten, denn in meinem Herzen gab es schon lange keinen Platz mehr für sie und ich würde ihr diesen nicht mehr freiräumen.

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