Ich habe die Farbe schwarz schon immer gehasst. Schwarz erinnert mich an Raben, die vor allem in Romanen und Filmen, aber auch im realen Leben, nie ein gutes Zeichen sind. Es erinnert mich an Depressionen und die Dunkelheit, in der Menschen umgebracht werden und schlechte Dinge passieren. Aber vor allem erinnert es mich an den Tod, und das ist ein Thema, mit dem ich noch nie gut umgehen konnte. Alleine der Gedanke daran, dass ein Mensch den ich liebe von den einen auf den anderen Tag einfach nicht mehr da sein könnte, jagt mir Angst ein. Meine Mutter ist mit mir deshalb immer an jedem Tag, an den ich den Gedanken an einen Verlust kaum ertragen konnte, in die Kirche gegangen, um ein Lichtlein anzuzünden. Wir sind nicht die gläubigsten Katholiken, die jeden Sonntag den Gottesdienst besuchen, aber es hat geholfen. Mutter sagte, dass wenn ich Gott meine Ängste erzählen würde und ihn darum bat, mich vor den Verlusten zu schützen, die Angst unbegründet sei. Also zündete ich regelmäßig ein Lichtlein an, wenn ich Zweifel hatte, und für die Jahre meiner Kindheit schien es auch geholfen zu haben. Aber irgendwann kommt der Moment, an dem ein Mensch sich dem Tod stellen muss. Selbst Gott kann uns nicht ewig davor bewahren, weil es ein wichtiger Teil des Lebens ist. Aber dass es mein Bruder sein würde, der als erster gehen muss, hätte ich niemals gedacht. Und dass es kein natürlicher Tod ist, an dem er stirbt, sondern er es wollte, noch weniger. Es ist ein Gedanke, der vielleicht noch weniger zu ertragen ist als der Verlust selbst. Aber der Tag ist gekommen, und die Dunkelheit mit ihm. Eine weitere Sache, die mit der Farbe schwarz zu tun hat, ist die einheitliche Kleidung bei der Beerdigung. Schon Tage vor dem Begräbnis wollte ich mich weigern, mich dem zu stellen. Und all den trauernden Menschen. Ich habe wirklich daran gedacht, einfach zu Hause zu bleiben und mich mit ganz viel Eiscreme und meiner besten Freundin schweigend in meinem kleinen Apartment vor den Fernseher zu setzen, um eine Serie anzusehen. Es ist eine verlockende Option gewesen. Aber schließlich ist Luca immer noch mein Bruder gewesen, und auf seine Beerdigung zu gehen ist wohl das mindeste, was ich tun kann. Vielleicht hole ich den Serienmarathon und das Essen der Eiscreme nach der Beerdigung nach, wenn ich mich mit einer Entschuldigung nach dem verpflichtenden Teil davonstehle. Würde man mir das übel nehmen? Ich kann nun mal nicht gut mit Tod und Trauer umgehen, und schon gar nicht mit meiner Mutter, wenn sie emotional wird. Sie wird die ganze Zeit über weinen und an ihrem Asthmaspray hängen, damit sie genügend Luft bekommt, und dann wird der Teil kommen, in dem sie all die Erinnerungen aus ihrem Verstand hervorkramen wird und ich damit klarkommen muss. Bei mir ist es so, dass ich nicht gerne vor anderen Menschen weine. Das hat den Vorteil, dass ich mich recht gut zusammenreißen kann. Aber ab dem Moment, an dem jemand Erinnerungen über eine tote Person hervorkramt, werde ich zu einem Wasserfall. Ich weiß noch, dass in der Grundschule einmal eine Klassenkameradin von mir überraschend gestorben ist und ich mit meiner Mutter auf die Beerdigung gegangen bin. Es war schrecklich, und danach habe ich Mutter angebettelt, dass ich statt einer Kerze drei in der Kirche anzünden darf. Vielleicht war es ein verzweifelter Versuch, Gottes Aufmerksamkeit zu bekommen. Ihn daran zu erinnern, mich vor den Verlusten zu schützen. Vielleicht, das dachte ich damals, hat Gott mich in dem Moment vergessen. Vielleicht müsste ich zuerst wieder seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen, dass der Schutz wirkt. Heute weiß ich, dass all das Gerede von Schutz Nonsens ist. Ich kann Gott nicht mit Lichtlein regelrecht dafür bezahlen, dass er meine Lieblingsmenschen am Leben erhält. Als ich das realisiert habe, war ich für eine sehr lange Zeit unglaublich wütend auf meine Mutter. Wie hatte sie mich nur so etwas glauben lassen? Aber dann verstand ich, dass es der einzige Weg gewesen ist, um meine Verlustängste in den Griff zu bekommen, bis ich alt genug dafür geworden bin, um selbst mit ihnen klarzukommen. Was ich nicht gedacht hätte, ist, dass die Beerdigung so schnell stattfinden würde. Luca starb an einem Mittwoch, demselben Wochentag, an dem er geboren worden ist, und gleich am Samstag sollte die Beerdigung stattfinden. Ich bin immer neidisch gewesen, dass Luca an einem Mittwoch geboren worden ist, genauer gesagt am 29. November 2000. Mittwoch war und ist noch immer mein Lieblingstag der Woche, weil er eben in der Mitte liegt. Der Tag ist neutral, und Mittwochs ist immer Tennistraining gewesen. Ich mag den Tag sogar lieber als den Samstag, welcher der Lieblingstag meines Bruders gewesen ist. Gewesen ist. Schon traurig, wie schnell man von einer Person in der Vergangenheitsform spricht. Es macht es aber noch schlimmer, dass die Beerdigung an einem Samstag stattfindet. Der Tag, den Luca am meisten mochte, sollte nicht der Tag sein, an dem er unter der Erde vergraben wird und an dem jeder seinetwegen trauert. Es hätte ein Sonntag sein sollen, ein Abschluss mit dem Leben, wie es der Abschluss der Woche ist. Aber genauso wenig hätte er einen Mittwoch als den Tag wählen sollen, an dem er sich dazu entscheidet, von einem Dach zu springen. Vielleicht aber wollte er einfach an einem schönen Tag gehen. Eine weitere Sache, die ich auf die Liste der Dinge setzen kann, die ich wohl nie erfahren werde. Zu der Frage, warum er sich dazu entschied, zu springen. Und damit seinen siebenjährigen Sohn Remy allein ließ. Der Junge tut mir Leid. Obwohl ich mit Kindern nicht wirklich viel anzufangen weiß, habe ich meinen ruhigen Neffen mit den lockigen, schwarzen Haaren und den grauen Augen schon immer gemocht. Und er hat es nicht verdient, seinen Vater zu verlieren. Zu dem, dass seine Mutter kurz nach seiner Geburt spurlos verschwunden ist. Das jedoch nicht, ohne meinem Bruder klarzumachen, dass sie nichts mit ihrem Sohn zu tun haben will und Luca ja nicht versuchen sollte, sie zu suchen. Ich frage mich, was jetzt mit ihm passiert. Will ich es überhaupt wissen? Wie schlimm muss er wohl jetzt mit Verlustängsten zu kämpfen haben? Am liebsten will ich gar nicht mehr über all das nachdenken. Es ist eine Tragödie. Für den Moment versuche ich es einfach zu genießen, mit meiner besten Freundin auf der alten Couch in meinem Apartment zu sitzen und einen Serienmarathon zu veranstalten, auch wenn meine Gedanken die ganze Zeit über ganz woanders sind als auf dem Fernsehbildschirm. Zwar hätte Aria heute eigentlich eine Schicht im Café gehabt, aber sie hat fest darauf bestanden, dass wir uns heute Abend treffen. Ihre Begründung war zwar, dass ihrer Meinung nach keiner an einem Freitagabend alleine zu Hause sitzen sollte, aber ich weiß, dass der eigentliche Grund der war, dass sie mich wegen der Sache mit Luca unterstützen will. Und das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht. Denn manchmal sehe ich ihn vor mir stehen, mit seinen braunen Haaren und den grünen Augen, die auch meine Mutter und ich haben, und ich bin jedes Mal kurz davor in Tränen auszubrechen. Aber dann halte ich an dem Versprechen fest, das ich mir gegeben habe. Ich werde erst an seiner Beerdigung weinen. Erst, wenn ich es geschafft habe, dort zu erscheinen. Weil ich Kopfschmerzen von dem strengen Zopf bekomme, zu dem ich meine Haare heute gebunden habe, löse ich das Haargummi und beklage mich über die Dellen, die ich jetzt in den Haaren habe. Aria schmunzelt nur und zeigt dabei ihre süßen Grübchen. Sie hat mir schon tausend Male gesagt, dass ich meine Haare lieber offen lassen soll und verkneift sich jetzt einen Kommentar. Ihre schönen, wasserblauen Augen liegen kurz auf mir, aber als Damon wieder auf dem Bildschirm erscheint, schenkt sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Serie. Ich glaube, wenn ich irgendjemandem erzählen würde, wie sehr sie Damon Salvatore liebt, würde sie mich eigenständig erwürgen. Sie hat bemerkt, dass ich wieder nachdenklich geworden bin. Aria streckt ihren rechten Arm aus und ich kuschele mich an ihre Schulter. Ich bin so froh, sie zu haben. Sie streichelt sachte über meinen Rücken und die Stille hält weiterhin an. Wir haben seit einigen Minuten kein Wort mehr gewechselt, aber selbst bei dem Schweigen fühle ich mich in ihrer Gegenwart wohl, was nicht bei vielen Personen der Fall ist. Bei Luca war es der Fall. Aber nicht bei vielen Menschen. »Glaubst du, dass es irgendjemanden da draußen gibt, der Damon ersetzen könnte?«, frage ich und grinse, als Aria's Mundwinkel sich heben. Sie könnte Stunden über diesen Mann reden. Ich weiß gar nicht, wie oft sie schon mit mir diskutiert hat, als ich Schlechtes über ihn gesagt habe. Ich finde ihn okay, aber mein absoluter Traummann wird er wohl nie sein. »Nicht wirklich.«, antwortet sie mit einem leichten Gähnen, »Aber wenn du doch mal so jemanden treffen solltest, gib mir Bescheid.« In der nächsten Szene wird wieder einmal gezeigt, wie Damon sich einen Drink zubereitet und Stefan erscheint. Die kristallene Flüssigkeit in den Gläsern lacht mich beinahe an. »Ich habe richtig Lust auf Vodka. Was ist mit dir?«, murmele ich, während der Vampir das Glas in einem Zug leer trinkt und wieder einmal sein berühmtes Lächeln zur Schau trägt. Aria nickt nur, sie ist viel zu fokussiert auf das, was ihr Traummann zu sagen hat. Trotzdem, sie würde mich niemals alleine trinken lassen. Und wenn ich es mir recht überlege, wäre alleine zu trinken schon auch ein wenig traurig. Langsam stehe ich auf und binde meine Jogginghose neu. Wie gerne würde ich gerade einfach wie ein Vampir meine Emotionen abschalten. Aber andererseits frage ich mich; was ich dann wohl anstellen würde. In der Show waren das nicht gerade die glorreichsten Zeiten der Charaktere. Also dann lieber Konfrontation. Auch wenn das schon ein wenig ironisch klingt, da ich gerade auf dem Weg bin, den Alkohol zu holen. Während ich also die halbleere Flasche aus dem weiß-lackierten Schrank hole, schweift mein Blick über die Fotos, die an der Wand hängen. Wie soll ein Mensch je einen Tod verkraften können, wenn er immer und immer wieder diese Erinnerungen wahrnimmt? Zum Glück komme ich da ein wenig mehr nach meinem Vater und nicht nach meiner Mutter, die wahrscheinlich schon alleine bei dem Anblick wieder in Tränen ausgebrochen wäre. Die zwei Bilder sind silbern eingerahmt und zeigen Luca und mich in verschiedenen Phasen unserer Kindheit. In dem einen Bild müssten wir nicht älter als zehn Jahre alt sein und lachen freudig in die Kamera, während ich einen überdimensionalen Teddybär an mich drücke. Der Teddybär hieß Izzie, wenn ich mich recht erinnere. Ich weiß noch, dass Luca ihn jedes Mal für mich geholt hat, wenn ich wieder einmal hingefallen bin oder irgendwelche Wunden von mir versorgt wurden. Im zweiten Bild sind wir schon um einiges älter, die Aufnahme ist an dem Tag seines Schulabschlusses entstanden. Da habe ich mich sogar in dieses blaue Sommerkleid gezwungen, das Mutter so schön fand und mir Mühe mit dem Makeup gegeben. Luca sieht in dem Anzug und der Krawatte total fremd aus, was aber daran liegt, dass er ansonsten fast immer nur Jogginghosen getragen hat. Ich muss ein paar Male blinzeln, um mich von dem Anblick loszureißen und zwei Schnapsgläser aus dem unteren Fach des Schrankes hervorzukramen. Als ich mich wieder auf die Couch neben Aria fallen lasse und der Abspann der aktuellen Episode läuft, fühle ich mich miserabel. Ein bisschen schuldig vielleicht auch. Die ganze Zeit frage ich mich, wie ich nie bemerken konnte, dass Luca Selbstmordgedanken hatte. Aber wie merkt man so etwas schon? Es ist ja nicht gerade so, dass Menschen mit diesen Gedanken mit jedem darüber reden. Wahrscheinlich hatte er das Gefühl, dass er selbst mit dem Problem klarkommen müsste. Selbst als er auf dem Dach stand, und der Drang, einfach weiterhin den Fuß vor den anderen zu setzen, selbst wenn kein Grund mehr unter ihm sein würde, überwältigend wurde, wie wäre es dann noch möglich gewesen, sich selbst zu stoppen? Ich weiß nicht, wie es ist, diese Gedanken zu haben. Und hoffentlich werde ich das auch niemals erfahren. Aber ich kann nur erahnen, wie er sich gefühlt haben muss. Aria greift nach der Fernbedienung und pausiert die Serie, bevor die nächste Episode abgespielt werden kann. Ich merke, wie sie mich beobachtet, wie ich den Deckel von der Flasche schraube und den Vodka gleichmäßig in die zwei Gläser fülle. Normalerweise würde sie etwas dazu sagen, dass die Gläser randvoll sind, aber heute bleibt sie still. Sie hat keine Ahnung, wie sie sich verhalten soll. Ich reiche ihr zitternd das eine Glas und ein paar Tropfen des Alkohols tropfen auf meinen Daumen, aber das macht mir nichts aus. Dann treffen sich unsere Augen und wir sehen uns an, bevor wir unsere Gläser heben. Ich habe das Gefühl, dass meine Stimme genauso zittrig ist wie meine Hände es sind, als ich sage: »Auf Luca, den besten Bruder der Welt.« Aria's wasserblaue Augen scheinen tief in meine Seele zu blicken. Mitfühlend erwidert sie meine Worte, lässt aber die Sache mit dem Bruder aus. Danach hört man ein Klirren, als sich die Gläser berühren und wenig später ist die Flüssigkeit meine Kehle hinuntergelaufen. Das Brennen in meinem Mund tut gut. Nach vielen weiteren Shots wirkt alles verschwommen, die Wahrnehmung betäubt, aber für den Augenblick ist es okay. Vielleicht brauche ich das. Vielleicht muss ich mich Betrinken, um den kommenden Tag zu überstehen. Mit all dem Schwarz und all den Tränen. Denn der Tag kommt, wie schon vermutet, viel schneller, als ich es gehofft habe. Ich bin schon wach, als die Sonne erst aufgeht, aber mich überwinden und das einzig schwarze Kleid anziehen, das ich besitze, kann ich erst zehn Minuten bevor meine Mutter mich abholt. Sie hat darauf bestanden, dass wir zusammen fahren. Nachdem ich das Kleid angezogen und meine Tasche aus dem Kleiderschrank geholt habe, setze ich mich auf den kleinen Stuhl vor den Schminkspiegel, der in der Ecke des Raumes steht. Ich mag es, dass die Sonne gerade in diesen Teil des Apartments fällt. Wieder zittern meine Hände, als ich die Mascara auf meine Wimpern auftrage und mich gegen einen Eyelinerstrich entscheide. Erstens würde ich mit dem Zittern keinen geraden Strich hinbekommen und zweitens habe ich keine große Lust, mich für die Beerdigung so auffällig zu schminken. Ungeschickt verwende ich die Spange, die Aria mir gestern dagelassen hat, um meine Haare im Nacken zusammenzufassen. Braun, genauso braun wie seine Haare. Hat sein Haar inzwischen an Glanz verloren? Ich glaube gehört zu haben, dass auch der Glanz aus den Haaren verschwindet, wenn man tot ist. Ob das stimmt? Unruhig ziehe ich das Kleid weiter über die Knie, aber es will nicht so recht an Ort und Stelle bleiben. Ich hasse es, zu warten. Und Mutter ist schon zwei Minuten zu spät dran. Das laute Klingeln ist fast schon so etwas wie eine Erlösung für mich. Jetzt muss ich mich all dem stellen. Ich muss mich regelrecht davon abhalten, mir noch einige Schlücke Vodka den Rachen hinab zu schütten, weil es so verlockend klingt, die Beerdigung betrunken zu überstehen. Ich habe nicht einmal einen Kater von gestern Abend. Ob das etwas über meinen Alkoholkonsum aussagt? Mama sieht genauso traurig aus, wie ich es mir vorgestellt habe. Sie hat geweint, das sehe ich, und sie fällt mir sofort um den Hals. Ich weiß, was in ihrem Kopf vor sich geht. Sie fragt sich, warum ich nicht in derselben Verfassung bin wie sie. Sie hat es noch nie verstehen können, warum ich bei schrecklichen Nachrichten wie diesen nicht sofort wie sie losheule. In der Sekunde, in der ihr Kinn auf meiner Schulter aufliegt, fängt sie schon wieder an zu weinen. Ich weiß nicht wirklich, was ich tun soll, also klopfe ich ihr unbeholfen auf den Rücken. Wie gesagt, in solchen Situationen bin ich echt hilflos. Aber als ich so über ihre Schulter hinweg zur Treppe sehe, erkenne ich, dass sie nicht allein gekommen ist. Aber was habe ich erwartet? Nach ein paar Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, löst sie sich von mir und gibt den Blick frei auf eine Person, mit der ich momentan wohl noch weniger klarkomme. Remy. Die schwarzen, lockigen Haare sind viel länger als das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Ich glaube, das war an Weihnachten. Soll ich ihn genauso umarmen wie meine Mutter mich eben? Dem auffordernden Blick meiner Mutter zur Folge muss ich irgendetwas in der Art tun. Also knie ich mich hinab zu ihm und stelle sicher, dass mein Kleid nicht verrutscht. Ich bin in solchen Dingen echt penibel, weil ich nie Kleider trage. »Hey, kleiner Mann.«, begrüße ich ihn leise und lächele ihn an. Zuerst schaut er mich nicht an, aber dann landen seine grauen Augen auf mir. Ich bin überwältigt, wie traurig sie wirken. Es ist das einzige an ihm, das seine Emotionen zeigt. Der Anzug, in den man ihn gesteckt hat, muss mindestens drei Nummern zu groß sein. Nicht einmal die Schuhe sind mehr zu sehen. Was sagt man zu einem Kind, mit dem man gleich auf die Beerdigung seines Vaters gehen soll? Und noch dazu als jemand, der keine Ahnung von Kindern hat? Remy hat eigentlich immer den Anschein eines Lächelns auf seinem Gesicht getragen, sodass man die Grübchen gesehen hat, aber jetzt ist sein Gesicht aalglatt. Ich möchte sagen, dass es mir Leid tut, aber ich weiß nicht, ob es angebracht ist. Oder ob es sinnvoll wäre. Wie oft das Kind wohl schon Beileidsbekundungen gehört hat? Mutter kann anscheinend die peinliche Situation nicht länger ertragen und nimmt Remy an der Hand, um vorauszugehen. Mir ist das ganz recht, so kann ich hinter ihnen hergehen und muss nicht aufpassen, wie ich in ihrer Gegenwart reagiere. Es entsteht wieder einmal Stille zwischen uns und ich denke, dass die uns wohl noch lange begleiten wird. Worüber werde ich mit Mama reden, wenn ich sie besuche? Wie kann man so eine peinliche Stille überwinden? Mit Erinnerungen an meinen toten Bruder, nur damit wir wieder heulend dasitzen? Ich weiß nicht ob ich das kann. »Warst du in den letzten Tagen noch in der Buchhandlung, Eden?«, fragt meine Mutter, als wir das Erdgeschoss erreichen. Sie tut das, was sie am besten kann: Konversation führen. Ich räuspere mich, weil ich denke, dass meine Stimme ansonsten ganz versagt und erwidere: »Jeden Tag außer Freitag, da war Aria bei mir. Es hat mir geholfen, mich ... abzulenken.« Mutter vergisst für einen Moment, dass ich nicht neben ihr sondern hinter ihr gehe, und nur daran, wie ihre lockigen Haare sich auf dem Mantel hoch- und runter bewegen, erkenne ich, dass sie nickt. Jedoch schafft sie es heute nicht, die Konversation aufrecht zu erhalten. Was ich erstaunlich finde, ist dass sie Mascara aufgetragen hat. Sie trägt nie wasserfeste Wimperntusche, weil sie die nicht verträgt, also geht sie das Risiko ein, nach Ende der Trauerfeier wie ein Panda auszusehen. Im Auto sagt sie mir, dass ich Remy anschnallen soll. Er sitzt während der Fahrt neben mir und schaut unentwegt aus dem Fenster. Ich glaube nicht, dass er irgendwann noch ein Wort mit mir reden wird. Aber um ehrlich zu sein ist mir das recht. Außer mit Aria will ich momentan mit keinem reden. Sie hat zwar gesagt, dass sie zur Beerdigung kommen wird, aber sie gehört eben nicht zur Familie, weswegen sie separat fährt. Aber sie wird da sein, um mich zu unterstützen – und das bedeutet mir viel. Ich wüsste nicht, was ich machen würde, wenn sie nicht da wäre. Plötzlich werden wir mit einem Ruck in die Sitze gedrückt und ich höre, wie gehupt wird. Mama flucht. Das tut sie immer beim Autofahren. Ich weiß nicht, was es dieses Mal ist. Vielleicht hat ihr irgendjemand wieder einmal die Vorfahrt genommen. Interessieren tut es mich auch nicht. Ich halte nur an dem Gedanken fest, dass ich das alles für Luca tue. Dann fällt mir etwas ein. »Mama, hast du die Rosen abgeholt?«, frage ich und lehne mich nach vorne. Der gehetzte Blick sagt mir, dass dem nicht so ist. »Schon gut, ich frage Aria, ob sie sie noch mitnehmen kann.« Der Blumenladen ist sowieso in der Nähe von Aria's Haus und sie fährt immer spät los. Das ist eine ihrer Angewohnheiten, die ich früh an ihr gemerkt habe. Ich bin im Gegensatz zu ihr immer überpünktlich und sie neigt eher dazu, zu spät zu kommen. Sie ist einfach die Ruhe in Person. Mir könnte das auch nicht schaden, weil ich jedes Mal ein Drama daraus mache, zu spät zu kommen, und dann doch wieder zehn Minuten zu früh dran bin. Vielleicht kommen wir deshalb so gut miteinander aus, weil wir so gegensätzlich sind. Schließlich kennen wir uns schon seit dem Kindergarten und haben zusammen jede Jahrgangsstufe bis zum Abschluss überlebt. Sie hat das Foto von Luca und mir an seinem Abschluss gemacht, das in meinem Apartment hängt. Neben mir fängt Remy an, sich zu bewegen. Mutter wirft einen Blick in den Rückspiegel. »Eden, kannst du dich bitte um Remy kümmern? Er wird bei Autofahrten oftmals sehr nervös.« Alarmiert sehe ich zu dem Jungen hinüber. Er hat die Hände zu Fäusten geballt und schaut nervös in alle Richtungen. Als er versucht, sich abzuschnallen, umfasse ich seine Handgelenke und sehe ihm in das Gesicht. Ich habe echt keine Ahnung, wie ich mit Kindern umgehen soll. »Es wird alles gut.«, flüstere ich. Gott, wie ich Lügen hasse. Aber ich weiß nicht, was ich sonst sagen könnte, um die Situation für ihn zu verbessern. Anscheinend komme ich auch nicht überzeugend rüber, denn jetzt versucht er noch stärker, sich zu wehren, und die Tränen laufen seine Wangen hinab. »Ich will zu Papa!«, schreit er aus vereinten Kräften und ich schlucke. Wie soll ich ihm erklären, dass er seinen Vater nie wieder sehen wird? »Remy, halt still!« Ich will ihn nicht verletzen, aber seine Handgelenke loslassen kann ich auch nicht. Fieberhaft denke ich nach. Was hat mich immer beruhigt? Was hat Luca immer getan, um mich zu beruhigen? Ich versuche, mich an meine Kindheit zu erinnern, aber mein Verstand wehrt sich dagegen. Alles erscheint so verschwommen, wie zu dem Zeitpunkt, als ich all die Shots Vodka mit Aria gestern getrunken habe. Remy schlägt inzwischen mit dem Kopf aus, und meine Hände beginnen wieder zu zittern. Was zur Hölle soll ich tun? Dann fällt mir endlich etwas Nützliches ein. Ein Schlaflied, das Luca mir immer vorgesungen hat. Ich weiß zwar nur die ersten Zeilen, aber ich fange an, es zu singen. In dem Moment ist es mir egal, dass ich es normalerweise hasse, vor anderen Menschen zu singen und dass ich Kinder eigentlich vermeide. Ich denke nur daran, dass ich Remy jetzt beruhigen muss. Die ersten Töne kommen krächzend aus meiner Kehle und ich glaube zuerst, dass sich nichts an Remy's Verhalten verändert, aber dann wird seine Gegenwehr schwächer und seine Aufmerksamkeit liegt auf mir. Die grauen Augen sehen auf meine Lippen, zwischen denen die Töne dieses bekannten Schlafliedes hervorkommen und die Grübchen erscheinen wieder. Ich bin so erleichtert, dass ich beinahe aufhöre, zu singen. Aber ich habe Angst, dass er dann wieder genauso um sich schlägt und sich zur Wehr setzt wie eben noch. Nach wenigen Minuten stimmt der Junge mit in das Lied ein und Mutter auch, und ich lasse endlich seine Handgelenke los und lehne mich erschöpft in meinem Sitz zurück. Es ist komisch, die Situation. Wie wir zu dritt im Auto sitzen und das Schlaflied singen und Luca nicht hier ist, aber es hat eine beruhigende Wirkung auf uns alle. Ich merke auch, wie sich meine Schultern entspannen und ich mich für jetzt etwas ablenken kann. Immer mal wieder schaue ich zu Remy hinüber um mich zu vergewissern, dass er jetzt ruhig ist, aber die ganze Fahrt über hört keiner von uns dreien mehr auf, zu singen. Und mir fallen die restlichen Zeilen des Textes wieder ein, als hätte ich sie nie vergessen. Für einen Moment, da ist es, wie wenn Luca zwischen mir und seinem Sohn sitzen und seine Hände auf unsere Schultern legen würde. Wenn er da war, wusste ich immer, dass alles gut werden würde. Das Lied gibt mir Hoffnung. Die Trauer kommt immer noch auf mich zu, aber vielleicht ist es okay, heute zu weinen.
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Die Sekundenmaler [𝓛𝓮𝓼𝓮𝓹𝓻𝓸𝓫𝓮]
General Fiction["𝓓𝓲𝓮 𝓢𝓮𝓴𝓾𝓷𝓭𝓮𝓷𝓶𝓪𝓵𝓮𝓻" 𝓴𝓪𝓷𝓷 𝓷𝓾𝓷 𝓪𝓵𝓼 𝓔-𝓑𝓸𝓸𝓴, 𝓣𝓪𝓼𝓬𝓱𝓮𝓷𝓫𝓾𝓬𝓱 𝓾𝓷𝓭 𝓗𝓪𝓻𝓭𝓬𝓸𝓿𝓮𝓻 𝓫𝓮𝓲 𝓪𝓶𝓪𝔃𝓸𝓷 𝓰𝓮𝓴𝓪𝓾𝓯𝓽 𝔀𝓮𝓻𝓭𝓮𝓷.] »Wir alle sind Sekundenmaler, Remy. Manche sehen noch untätig auf eine blanke...