Ich habe ganz vergessen wie es eigentlich ist, zu späteren Zeiten noch aus dem Haus zu gehen. Wenn es dunkel ist und man die Sterne am Himmel sehen kann und wenn alles so ruhig ist, dass man auf dem Weg entlang der Straßen in Gedanken verfällt. Es bedeutet nicht, dass ich nie auf Partys gehe. Im Gegenteil; ich bin ja sogar am Tag von Luca's Tod auf einer gewesen. Aber es ist einfach nicht dasselbe, wie gezielt etwas Zeit draußen im Dunkeln zu verbringen, ohne dass man schnell zum nächsten Haus spaziert und im Inneren verschwindet. Außerdem mag ich es auch, am Abend oder gar in der Nacht alleine in meinem Schlafzimmer zu sitzen – vielleicht mit einer dampfenden Tasse Apfeltee – und einfach zu schreiben. Das Schreiben ist eine Leidenschaft, genauso, wie das Malen Luca's Leidenschaft gewesen ist. Ich drücke meine Gedanken in Worten aus, in langen Absätzen, die nach und nach zu einer Geschichte werden, und Luca erzählte mit Pinselstrichen. Nur zu schade, dass ich gerade einfallslos bin. Ich habe eine Schreibblockade. Und die ist so nervenaufreibend, dass ich es fast schon als krankhaft beschreiben würde. Unter normalen Umständen bringen mich schreckliche Ereignisse und viele, gemischte Emotionen dem Schreiben näher, aber zur Zeit scheine ich mich nur noch mehr davon zu entfernen. Mein Kopf ist leer. Und selbst wenn irgendwann einmal eine tolle Idee oder auch nur der Ansatz eines interessanten Gedankens in meinem Kopf auftaucht, könnte ich ihn wohl nicht in Worte fassen. Als hätte man mir meinen gesamten Wortschatz einfach mal eben so weggenommen. Also gehe ich raus, obwohl die Veranstaltung erst in einer halben Stunde beginnen wird. Aria hat mir bei einem kurzen Telefonat erzählt, wie diese Veranstaltung ablaufen wird: die Teilnehmer bringen Kerzen und Bilder, vermutlich auch individuelle Andenken, mit zu der Unfallstelle und wir trauern gemeinsam. Wahrscheinlich wird noch eine Schweigeminute eingelegt. Außerdem soll sich keiner in dieser Zeit allein fühlen. Aber genau das tue ich. Ich fühle mich allein. Fühle mich nicht komplett, weil ein riesiger Teil meines Lebens einfach aus und vorbei ist. Simple Dinge, wie der Gedanke, dass Luca nicht einmal bei meiner Hochzeit bei mir sein wird oder ich im Allgemeinen nichts mehr mit ihm teilen kann, machen mich noch trauriger. Also dachte ich, dass wenigstens die frische Luft ein wenig helfen würde. Es ist wieder einmal kälter, als ich dachte, und ich bin froh, dass ich den kuscheligsten Schal um meinen Hals gewickelt habe, den ich finden konnte und der Wintermantel fast meine komplette Haut bedeckt. Meine Augen jedoch kann er nicht abschirmen, und bei dem Wind, der immer wieder aufkommt, fangen sie an zu tränen. Remy ist seit ein paar Stunden bei meiner Mutter, die den Jungen für den heutigen Abend freundlicherweise aufgenommen hat. Wir waren beide der Meinung, dass so eine Veranstaltung kein Ort für einen kleinen Jungen ist. Ich denke, es würde es ihm nur noch weiter erschweren, mit dem Gedanken an seinen toten Vater klarzukommen. Aber ich selbst musste einfach kommen. Ich finde die Idee schön und Lichter anzuzünden hat mir immer Hoffnung gegeben – selbst wenn es nicht in einer Kirche ist. Mutter sagte jedoch auch immer, dass man an allen Orten zu Gott sprechen kann. Wieder passiere ich die Beete, an die ich auch vorhin vorbeigegangen bin, um zum Haus zu kommen. Es wäre schön, mal wieder etwas im Garten zu machen. Aber da der Garten, auf den ich durch mein kleines Apartment auf der Südseite hinabsehen kann, nicht nur mir gehört, ist das nicht so einfach. Vielleicht kann ich mit dem Vermieter sprechen. Die Turmuhr schlägt acht Uhr, in fünf Minuten muss ich beim Treffpunkt sein. Ich beschleunige meine Schritte und stecke meine Hände in die Taschen des Mantels, um sie zu wärmen. Komisch, dass ich an den Händen immer als erstes friere. Mir fällt auf, dass ich wieder dieses Ticken der Uhr in meinem Kopf habe. Es kommt wahrscheinlich davon, dass ich in letzter Zeit zu oft daran erinnert wurde, wie oft die Zeit vorbei sein kann. Wie einfach es ist, die Zeit anzuhalten. Die Straße, vor deren zweitem Haus sich die Menschen schon versammelt haben, kommt mir so vertraut vor, dass ich mir kurz überlege, einfach umzudrehen. Ich bin mir nicht sicher, wie viel ich momentan noch aushalten kann. Aber bei dieser Veranstaltung dabei zu sein, ist mir wichtig. Also tue ich das, was mir am Schwersten zu fallen scheint, von all den Optionen, die sich mir darbieten: ich bleibe. Für jetzt bin ich stolz auf mich, dass ich nicht die Option gewählt habe, wie ein Feigling wegzurennen. Ich habe die Häuser in dieser Straße schon immer bewundert, bin fasziniert, wie wundervoll minimalistisch sie gebaut wurden. Ich kann nicht sagen, in welchem Baustil sie gefertigt wurden – dafür kenne ich mich zu wenig aus – aber die Mischung von grau und weiß mit wenigen, ausdrucksstarken Farben hat etwas Magisches an sich. In der Dunkelheit werfen die großen Bäume, die auch hier überall angepflanzt wurden, lange Schatten an die säuberlichst gestrichenen Hauswände und die Blumen in den Kästen auf den Balkonen bewegen sich leicht im aufkommenden Wind. Die Umgebung wäre fast perfekt, um hier sein gesamtes Leben mit den Menschen zu verbringen, die man liebt, wenn da die Erinnerungen nicht wären. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich mit Freunden in meiner Kindheit hier war. Wir haben Fußball und Federball auf den Straßen gespielt und sind schnell auf die Gehwege geflüchtet, wenn uns Autos entgegenkamen. Wir haben mit Straßenkreide auf den grauen Asphalt gemalt und uns dabei wie die größten Künstler gefühlt, obwohl Luca uns immer mit seinen Kunstwerken die Show gestohlen hat. Für meinen Bruder und ich waren die Kinder in dieser Straße fast so etwas wie ein zweites zu Hause gewesen. Selbst Mama ist hier oft gewesen und hat sich mit den Eltern unserer Freunde zum Kaffee und Klatsch getroffen oder hat Wein in edlen Gläsern getrunken, während sie uns von den Terrassen aus beim Spielen zugesehen hat. Ich kenne die Straße fast in und auswendig, sogar das Innere der Häuser. All die guten Erinnerungen an damals, ich habe nichts davon vergessen. Und doch hat eine schlechte Erinnerung es geschafft, sich so derart in den Vordergrund zu schieben, dass die anderen Geschehnisse beinahe bedeutungslos erscheinen. Der Gedanke, dass Luca's Blut nur wenige Meter von meinem jetzigen Standpunkt den Boden getränkt hat und man die Blutlache wahrscheinlich immer noch sehen kann, weil es bisher nicht geregnet hat, macht mich krank. Die Frage, warum er sich das Leben nahm, brennt siedend heiß in mir. So heiß vor Wut und Trauer, weil ich nicht glaube, je eine Antwort darauf zu bekommen. Es ist schwer, weiterzugehen. Weiterhin einen Fuß vor den anderen zu setzen. Bei jedem Schritt zähle ich langsam bis fünf, bevor ich mich bewege, weil ich gehört habe, dass das die Überwindung leichter machen soll. Du zählst langsam bis fünf, und dann tust du es einfach, so heißt es. Wo habe ich das nur gelesen? Es scheint jedenfalls zu funktionieren. Obwohl ich mir dabei wie eine Marionette vorkomme. Man zieht an einem Faden, und ich mache den nächsten Schritt. Nur dass ich selbst es bin, die an dem Faden zieht und somit bewirkt, dass ich der Unfallstelle immer näher komme. »Hey, schön das du gekommen bist!« Scheiße. Damit ist die Option, einfach wegzurennen, wohl ein für alle mal ausgeschlossen. Obwohl ich bis jetzt nicht einmal wusste, dass ich noch ernsthaft darüber nachgedacht habe. Das Mädchen, das mich angesprochen hat, muss sich anscheinend aus der großen Menschenmenge gelöst und auf mich zugekommen sein, ohne dass ich es wirklich wahrgenommen habe. Ich war zu fokussiert darauf, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Ich schaue sie zweifelnd an. Ich will nicht unhöflich herüberkommen, aber um ehrlich zu sein habe ich keine Ahnung, was ich darauf sagen soll. Heeeey, klar, ich freue mich total? Denn freuen tue ich mich absolut nicht. Mir ist eher nach Weinen zumute. Und nach etwas anderem, dem ich nicht nachgeben werde. Als sie weiter näher kommt, fallen mir ihre intensiv roten Haare auf, die sich bis zu ihrer Taille hinab wellen. Ich glaube, ich habe noch nie so eine leuchtende Haarfarbe gesehen. Wenn es also nicht gefärbt ist, bin ich beeindruckt. Dann frage ich mich, ob ich sie kenne. Könnte es sein, dass sie eine Freundin von Luca gewesen ist und ich ihr ein paar Male begegnet bin? Möglich. Aber mit Gewissheit kann ich es nicht sagen. Als sie sich hinab beugt, sehe ich den dunklen Ansatz ihrer Haare – okay, die Farbe ist definitv fake. Was das Wiedererkennen von Menschen betrifft, bin ich im Übrigen echt kein Genie. Ich kann mir ja nicht einmal Geburtstage wirklich merken. Wir gehen zusammen die letzten Meter zu der Menschenmasse und ich zwinge mich dazu, nicht auf den Boden zu sehen. Es könnte sein, dass wir jetzt gerade auf exakt der Stelle stehen, auf der Luca zu Tode gekommen ist. Auf der noch immer sein Blut klebt. Mir wird schlecht. Es sind mehr Personen, als ich es erwartet habe. Wie bei der Beerdigung viele Menschen, die ich aus der Schule oder dem Bekanntenkreis kenne und wiederum viele, die für mich Fremde sind. Luca hat viele Menschen gekannt, er war sogar recht beliebt in allen Kreisen, würde ich sagen. Aber wie konnte man ihn auch nicht mögen? Er war so ein herzensguter, vielfältiger Mensch, in dessen Gegenwart man gerne war. Von ihm habe ich es gelernt, die Welt optimistischer zu sehen. Er hat mir geholfen, wann immer ich ihn brauchte. Wenn ich es mir genau überlege, hat er letzten Endes sein eigenes Wohl etwas zu sehr in den Hintergrund geschoben. Wäre es an mir gewesen, mich mehr um ihn zu kümmern? Es ist ein ewiger Teufelskreis, in dem ich mich befinde. Ich kann mich noch so oft fragen, was Luca's Beweggründe waren, und komme im Endeffekt doch wieder an dem Standpunkt an, mit dem ich begonnen habe. Es gibt kein Buch auf der Welt, das ich lesen könnte, um meinen Durst nach Antworten zu löschen. Die einzige Methode, die mir geholfen hat, mich durch das Leben zu bringen, schlägt in diesem Umfeld fehl. Das Lesen. Ich könnte höchstens ein Buch nach dem anderen lesen, um mich in anderen Welten zu verlieren, in denen der Bruder nicht im Selbstmord geendet hat und in dem die Hauptcharaktere am Schluss die Antworten auf ihre Lebensfragen bekommen. Und glücklich bis an ihr Lebensende existieren können. Obwohl das mit dem Glück bis ans Lebensende absoluter Schwachsinn ist. Wer ist schon von einem entscheidenden Wendepunkt im Leben bis zu dem Moment, an dem der Körper unter der Erde vergraben wird, ständig glücklich gewesen? Ich glaube nicht, dass das möglich ist. »Ich würde dir mein Beileid aussprechen, aber ich weiß aus eigener Hand dass man irgendwann verrückt wird, wenn man diese zwei Worte nur ein einziges weiteres Mal hört.«, sagt die Rothaarige und dreht sich während dem Gehen immer wieder zur Seite, um mir in das Gesicht zu sehen. Ich mag Menschen wie sie. Die so einfühlsam sind und über solche Dinge nachdenken. Kann es sein, dass ich ihr wirklich schon einmal begegnet bin? »Danke.«, sage ich, weil ich das Bedürfnis habe, mich zu bedanken. Dann, der unangenehme Teil: »Tut mir Leid, aber kennen wir uns?« Ich bin wohl diejenige von uns, die nicht so einfühlsam ist. Sie nimmt die Worte nicht wirklich schlecht auf, aber ich kann nicht deuten, ob sie erwartet hat, dass ich sie kenne. Denn sie überspielt es mit einem leisen Lachen. Oh doch, sie ist gekränkt. Ich zeige dieselbe Reaktion, wenn ich eine Emotion überspielen will. Ich fühle mich noch schlechter. »Ich war die erste Freundin von deinem Bruder, Eden.«, sagt sie mit einer Stimme, die nun weniger Enthusiasmus zeigt als zuvor, »Du hast mich nicht besonders gemocht.« Das war ehrlich ... Eine weitere Charaktereigenschaft, die ich ihr hoch anrechne. Aber gerade verwandelt sich irgendwie das ganze Bild, das ich von ihr habe. Wieder einmal weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll. Vielleicht hat mir der Mangel an Sozialkontakten in den letzten Wochen die Fähigkeit dazu genommen, eine richtige Konversation mit jemandem zu führen, der nicht meine Mutter, Aria oder Remy ist. Luca war gut in Konversationen. Das hatte er wahrscheinlich von Mutter. Wie gesagt, ich denke, dass ich im Sinne von Kommunikation wohl besser im Schriftlichen bin.
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Die Sekundenmaler [𝓛𝓮𝓼𝓮𝓹𝓻𝓸𝓫𝓮]
General Fiction["𝓓𝓲𝓮 𝓢𝓮𝓴𝓾𝓷𝓭𝓮𝓷𝓶𝓪𝓵𝓮𝓻" 𝓴𝓪𝓷𝓷 𝓷𝓾𝓷 𝓪𝓵𝓼 𝓔-𝓑𝓸𝓸𝓴, 𝓣𝓪𝓼𝓬𝓱𝓮𝓷𝓫𝓾𝓬𝓱 𝓾𝓷𝓭 𝓗𝓪𝓻𝓭𝓬𝓸𝓿𝓮𝓻 𝓫𝓮𝓲 𝓪𝓶𝓪𝔃𝓸𝓷 𝓰𝓮𝓴𝓪𝓾𝓯𝓽 𝔀𝓮𝓻𝓭𝓮𝓷.] »Wir alle sind Sekundenmaler, Remy. Manche sehen noch untätig auf eine blanke...