𝒁𝒘𝒆𝒊𝒕𝒆𝒓 𝑺𝒂𝒕𝒛

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Die Straßen der Stadt empfingen ihn wie alte Freunde, denen er tagtäglich begegnete

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Die Straßen der Stadt empfingen ihn wie alte Freunde, denen er tagtäglich begegnete. Er kannte jeden Stein, jede Senkung und jeden Riss im Asphalt. Nichts hatte sich hier verändert, was ihn in seiner festen Überzeugung weiter bestärkte, dass alles wieder in gewohnten Bahnen verlief. Wenn sich hier nichts gewandelt hatte und die Welt noch ganz genau dieselbe war wie gestern Morgen, dann konnten seine Erlebnisse auch nichts weiter gewesen sein, als ein kurzer, närrischer Alptraum. Nicht real jedenfalls, so viel stand fest.

Caelan Krasnek konnte im Nachhinein bloß den Kopf über seine eigene Dummheit schütteln. Konnte ein Mann nach über vierzig Jahren Lebenszeit immer noch so kindlichen Albernheiten anhängen? Gespenster. Nichtexistierende Schüsse. Lächerlich!

Die Straßenbahn glitt an ihm vorbei und vollzog kreischend die Kurve, die ihr ihre Schienen vorschrieben. Ein misstönendes Glissando. Eigentlich ein widerliches Geräusch, doch heute erschien es Caelan in seiner Vertrautheit beinahe beruhigend. Es war ein Teil der Melodie der Stadt, die er bisher nie zu schätzen gewusst hatte. Wieso hätte er auch etwas Angenehmes im Geräusch der Motoren, dem mancherorts herrschenden Stimmengewirr und dem Bimmeln und Quietschen der Straßenbahn finden sollen? All das war mehr eine Beleidigung für sein feines Gehör, jedoch eine, mit der er sich abgefunden und an die er sich gewöhnt hatte. Heute war es anders. Nun durchströmte ihn bei diesen Klängen Euphorie, denn in ihnen schwang das Alltägliche mit. Alltäglich. Nicht anormal.

Das Gefährt verschwand und gab den Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite frei. Vor den Altbauten, die aus dem Boden schossen wie Monumente eines vergangenen Lebens, an das sich niemand mehr erinnern konnte, zeichnete sich eine dunkle Gestalt ab. Vermutlich wäre sie Caelan keines zweiten Blickes würdig gewesen, doch wie sie dort in Hut und schwerem dunklen Mantel stand, als wäre es bereits eisiger Winter, hatte sie etwas Befremdliches an sich. Der Mann rührte sich keinen Millimeter, starrte stumm über die Straße hinweg zu ihm, auf etwas Unbestimmtes wartend.

Obwohl die durch die Straße schwebende Brise noch das letzte Aufbegehren sommerlicher Wärme mit sich trug, fröstelte der Dirigent. Marionettenhaft, auf seltsame Weise unnatürlich hob der Mann auf der anderen Straßenseite den Kopf. Gerade so, dass die Hutkrempe sein Gesicht nicht länger völlig im Schatten ließ. Ein breites Kinn kam zum Vorschein, eine große Nase, dunkelbraune Augen. Seine Augen. Sie hefteten sich an Caelan, durchbohrten ihn über die Straße hinweg wie zwei scharf geschliffene Dolche.

Unmöglich! Er blinzelte mehrmals, in der Hoffnung, auch dieses Bild würde sich in Rauch auflösen wie die vorherigen. Doch es blieb. Der Tote starrte weiterhin zu ihm herüber. Sein Gesicht fahl, leer, als wäre er tatsächlich nicht am Leben, ein Wiedergänger, der seelenlos durch die verlassenen Straßen wandelte.

Seine bleichen Lippen öffneten sich und formten ein einziges Wort. Wie er es von hier erkennen konnte, wusste Caelan selbst nicht, doch es bestand kein Zweifel darüber, was der Tote ihm sagen wollte.

Mörder.

Sein Herz setzte einen Takt aus. Unsichtbare Ketten wanden sich um seinen Körper, die ihm jegliche Bewegung untersagten und die Luft aus seinen Lungen pressten.

Nun meinte der Dirigent sogar das Flüstern des Toten dicht an seinem Ohr zu hören, obwohl er doch nach wie vor am selben Ort verharrte. Kalter Atem an seiner Haut. „Mörder. Mörder. Mörder."

Nein! Das ist nicht wahr! Ich habe dich nicht umgebracht. Das war ich nicht. Nicht er war es, an dessen Händen sein Blut klebte. Nicht er war es, den die Schatten dieser Zeit verfolgen sollten. Nicht er. Es gab Schuldige. Doch nicht er. Wann hatte er schon jemals einem Menschen ein Haar gekrümmt? Alles, was er je getan hatte, seit er denken konnte, war den Taktstock zu halten. Wem konnte er damit schon schaden? Er hatte nichts verbrochen.

Doch der Tote klagte ihn an. Mit seinen Blicken. Mit seinen Worten. Mit seiner Anwesenheit. Er klagte ihn an und niemanden sonst. Schmerzhaft verkrampfte sich Caelan Krasneks Herz. Als hätte sich eine Hand darum geschlossen, die es zum Stillstand zwang. Vor seinen Augen begann die andere Straßenseite zu verschwimmen. Die vertrauten Häuser, die düstere Gestalt, deren Ausdruck eiskalt und völlig ungerührt blieb, als wären sie Fremde, nein, schlimmer als das. Feinde. Das früher so warme Braun seiner Augen war kalt. Leblos. Seelenlos.

Seine Tasche entglitt seinen Händen und fiel zu Boden. Caelans Beine gaben kraftlos unter ihm nach. Seine Knie schlugen auf der Straße auf. Wieso verfolgst du mich? Was habe ich dir getan?

War das das Ende?

Surrend näherte sich die nächste Straßenbahn, schob sich vor das verschwimmende Bild des Mannes, durchtrennte die unsichtbaren Fäden, mit denen ihre Blicke aneinandergefesselt waren und damit den teuflischen Bann.

„Um Himmels willen, geht es Ihnen gut?", drang aus weiter Ferne eine Stimme zu ihm. War sie wahrhaftig hier? Oder auch bloß ein Hirngespinst? Die Straße war verlassen. Wer sollte ihm denn schon helfen? Außer ihm war hier doch bloß er – der Tote.

Ein Stimmengewirr umfing ihn, aus dem er keine einzelnen Sätze oder Worte filtern konnte, und doch schienen sie sich in einem misslungenen Kanon zu wiederholen. Rufe. Eine Berührung, die er nichts Genauem zuordnen konnte. Denn die Gebäude und Straßen um ihn waren längst von einem dunklen Nichts verschluckt worden. Das Ende? War es das? Hier? So? Wie banal. Wie grausam. Er hatte sich doch gewünscht mit Musik zu sterben. Mit seinem Taktstock noch in der Hand.

Auf offener Straße, begleitet von dem widerlichen Kreischen einer Straßenbahn – wahrlich kein würdiges Ende.

Doch stattdessen begannen die Fassaden der Häuser wieder an Form anzunehmen, während in seinen Augenwinkeln noch für eine Sekunde die verschwindende Tramway zu sehen war. Die andere Straßenseite war verlassen.

 Die andere Straßenseite war verlassen

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Der DirigentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt