26. August 2017
Sanft glitten meine Finger über die Klaviertasten, leichte Bewegungen, kurze Berührungen, die dem Instrument seine schönsten Töne entlockten. Es war heute nun schon das vierte Mal, dass ich Bach spielte und ich wusste, dass ich jeden Ton, jeden Tastensprung perfekt memoriert hatte. Meine Finger glitten selbstständig über die Tasten und ich verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, wo ich sie als nächstes platzieren musste. Wie von selbst fanden sie sich auf der Tastatur zurecht und ich spielte das Stück fehlerfrei zu Ende. Der letzte Ton erklang und der Raum füllte sich mit Applaus. Ich sah von den Noten auf und blickte über das Instrument hinweg auf das Publikum, welches mir beim Spielen zugesehen hatte. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, während in meinen Fingerspitzen immer noch ein leichtes Kribbeln zu spüren war und ich stand vom Klavier auf. Anschließend umrundete ich das Instrument und verbeugte mich. Es dauerte einen Augenblick, bis der Applaus verebbte, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und verließ, immer noch lächelnd, die Bühne.
Kaum war ich im Bereich hinter der kleinen Bühne angekommen, umrundete mich auch schon eine Schar an Menschen, die alle kreuz und quer auf mich einredeten. Unter ihnen waren meine Freunde, die mir für das "wundervolle, herzergreifende Spielen" (ihre Worte, nicht meine!) gratulierten, außerdem meine Tante Kassy, die mich mit gerunzelter Stirn darauf aufmerksam machte, dass ich die Rosen, die auf die Bühne geschmissen wurden, einfach dort hatte liegen lassen, und natürlich mein Zwillingsbruder Niall, der sich hauptsächlich darüber lustig machte, wie ich beim Spielen ausgesehen hatte. Ich ging nicht wirklich auf ihr Gerede ein sondern wimmelte alle bis auf Niall so schnell es ging ab und verschwand dann mit ihm in dem kleinen Raum, der für diesen Auftritt meine Umkleide darstellte.
Niall schnappte sich sogleich eine Chipstüte aus meiner Tasche, die ich achtlos auf den Boden gestellt hatte und ließ sich dann auf die kleine Couch in der Ecke fallen, während ich am Schminktisch Platz nahm und anfing, die ganzen Haarspangen aus dem bombenfest sitzenden Knoten, zu dem meine Haare frisiert waren, zu entfernen.
"Also?" Ich warf Niall einen Blick durch den Spiegel zu, doch er zuckte nur laut schmatzend mit den Schultern. Anschließend murmelte er etwas Unverständliches vor sich hin. Entnervt ging ich nicht weiter auf seine Äußerung ein, denn ich wusste, dass ich sowieso kein angemessenes Feedback für meine so eben erbrachte Leistung bekommen würde. Niall war selbst ebenfalls musikalisch, konnte meinem Klavier Spielen allerdings nicht halb so viel Begeisterung schenken wie ich seinem Gitarre Spielen. Wann immer ich bei irgendwelchen Veranstaltungen auf der Bühne spielte, musste ich ihn jedes Mal regelrecht mit mir mit zerren, egal ob es sich dabei um Hochzeiten, Geburtstage oder einem Frühlingskonzert für die Gemeinde (wie heute) handelte.
Ich löste meine Haare gerade aus den Haargummis, als es an der Tür klopfte. Bevor ich überhaupt die Chance hatte, etwas zu erwidern, wurde sie auch schon geöffnet und meine Tante Kassy trat in den Raum.
"Alison, Schatz, weißt du wo dein Bruder-" Sie beendete den Satz nicht, sondern fixierte aus ihren braunen Augen nur Niall, wie er mampfend auf der Couch saß. Dann seufzte sie tief und schloss die Tür hinter sich. "Ich muss mit euch reden."
Beim Klang ihrer Stimme wurde ich hellhörig. Sie hörte sich komisch an, irgendwie... ernst. Ich machte also auf meinem Hocker eine 180 Grad Wendung und nickte ihr zu, dass sie in meine Garderobe eintreten konnte. Sie setzte sich neben Niall auf die Couch, der sich augenblicklich aufrecht hinsetzte und die Chipstüte wegstellte.
"Was'n los, Kassy?", fragte er, die Augenbrauen stutzig zusammengezogen. Auch ich wurde langsam unruhig, denn sie wirkte, als würde ihr etwas Ernsthaftes auf dem Herzen liegen.
"Ich habe gestern Abend einen Anruf bekommen", fing sie an und machte dann eine Pause. Sie hatte den Blick auf den Boden gerichtet und ihre Hände waren in ihrem Schoß gefalten.
"Waaas, du hast 'ne Telefonleitung?", fragte Niall ironisch, wobei er mir einen Blick zuwarf und die Augen verdrehte. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte ich vermutlich gelacht, doch jetzt murmelte ich nur ein "Halt die Klappe, Niall" und fixierte mit meinen Augen wieder Kassy, wie sie wie ein Häufchen Elend auf der Couch saß. Auf einmal wirkte sie kein bisschen mehr wie die toughe Tante, die Niall und mich damals bei sich aufgenommen hatte, nachdem unsere Eltern gestorben waren.
"Von wem war denn der Anruf, Kassy?", fragte ich, um sie zu ermutigen, uns endlich zu erklären, was los war.
Sie holte einmal tief Luft, dann hob sie den Blick und sah mir direkt in die Augen, als sie sagte: "Er war von Molly Brians, eurer Großmutter."
Ich wollte zunächst ironisch auflachen, doch konnte es mir gerade noch so verkneifen. Beide meiner Großmütter und -väter waren vor Jahren gestorben, bevor Niall und ich überhaupt die Chance gehabt hatten, sie kennenzulernen. Die Eltern unseres Vaters Finley, Jim und Brook Horan waren nur wenige Jahre nach Dads Tod ebenfalls gestorben und zu den Eltern meiner Mutter Bella, James und Molly Brians, hatten wir nach Moms Tod keinen Kontakt mehr gehabt, bis uns irgendwann die Nachricht erreichte, dass beide verstorben waren.
"Ich weiß, dass es schwer zu glauben ist und ich konnte es zunächst auch nicht glauben, aber-"
"Woah, Kassy, jetzt mal ganz ruhig." Ich hob beschwichtigend die Hand, um ihr zu signalisieren, dass Niall und ich den Faden verloren hatten. "Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wir dir das abkaufen, oder?"
"Ally, Niall, warum sollte ich euch anlügen?" Kassy sah erst meinen Bruder, dann mir kurz in die Augen und irgendetwas an ihrem Blick machte mich langsam unruhig.
Könnte sie vielleicht wirklich die Wahrheit sagen? War es denn wirklich so abwegig, dass tatsächlich ein Familienmitglied unserer mütterlichen Seite noch am Leben war? Immerhin waren wir auf keiner der beiden Beerdigungen gegangen.
"Molly Brians, die Mutter eurer Mutter, die angeblich bei einem Autounfall ums Leben kam, ist... Na ja, immer noch am Leben." Kassy holte einmal tief Luft, dann fuhr sie fort: "Sie hat mir am Telefon erzählt, dass sie sich vor einigen Jahren in London niedergelassen hat, nachdem sie für viele Jahre gereist ist."
Ich hörte, was Kassy sagte, doch es schien, als könnte mein Gehirn es einfach nicht verarbeiten und verwerten.
"Sie hat immer mal wieder versucht, Kontakt zu uns aufzunehmen, doch sie hatte weder eine aktuelle Telefonnummer, noch Adresse", fuhr Kassy fort und alles was sie sagte machte totalen Sinn. Nur in meinem Kopf nicht, denn dort sah es gerade so aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ich war total durcheinander und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
Nach dem Tod meiner Eltern hatte Kassy das Haus, in welchem Niall und ich gelebt hatten verkauft, hauptsächlich, weil es eine Menge schlechter Erinnerungen auslöste und wir waren ans andere Ende des Landes gezogen, wobei wir jegliche Freunde und Bekannte zurückgelassen hatten. Es machte also Sinn, dass Molly Schwierigkeiten hatte, uns aufzufinden.
Trotzdem wollte ich nicht wahrhaben, was Kassy da sagte. Ich warf Niall einen Blick zu, der genauso blöd aus der Wäsche guckte wie ich und nicht dazu im Stande war, ein einziges Wort rauszubringen. Unsere Blicke kreuzten sich, doch ich konnte in seinen Augen keine Antworten zu meinen Fragen finden, denn er war genauso überfordert wie ich.
"Jedenfalls hat Molly dann kürzlich einen Artikel in der Zeitung gelesen, in welchem deine Klavierkünste sehr gelobt wurden, Ally und hat bei der Gemeinde meine Telefonnummer ausfindig gemacht."
"Selbst wenn all das, was du uns gerade erzählt hast, der Wahrheit entspricht, Kassy", sagte ich, als ich endlich dazu im Stande war, ganze Sätze herauszubringen. "Warum sagst du uns das? Was genau willst du von uns?"
Ich wusste nicht, ob ich Kassy Glauben schenken sollte. Einerseits klang es so absurd, dass eine meiner Großmütter auf einmal nach all den Jahren doch nicht tot war und sie eine wirkliche, lebendige Person sein sollte, doch andererseits... Es gab einen winzigen Teil in mir, der Kassy unbedingt glauben wollte, denn ich brannte darauf, jemanden aus meiner Familie kennenzulernen, der mir noch mehr über Mom und Dad erzählen konnte.
Niall und ich waren erst 5 Jahre alt gewesen, als unsere Eltern bei der Arbeit ums Leben kamen. Kassy hatte uns erzählt, dass wir sehr arm gewesen waren und ich konnte mich auch an einzelne Dinge erinnern, doch auch Kassys Erzählungen meiner Eltern konnte das Verlangen danach, mehr zu wissen, einfach nicht stillen.
Und als Kassy uns endlich sagte, was eigentlich Sache war, hatte mein Herz bereits längst entschieden, dass ich ihr Glauben schenkte:
"Sie möchte euch kennenlernen."
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Double Horan » h.s
FanfictionAlison Horan und Harry Styles - zwei Menschen, die vom Schicksal zusammengeführt wurden, als Alison gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder nach London kommt, um dort ihre totgeglaubte Großmutter kennenzulernen, und dessen Liebesgeschichte ganz unbemerk...