Kapitel 4 - Jannik (Januar 2018)

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«Jetzt konzentrier dich doch mal!» Bens Stimme wirbelt meine Gedanken durcheinander. «Ich weiß, dass es schwer ist, nach einer längeren Pause wieder reinzukommen, und wir sind wohl alle noch ein bisschen in Feiertagsstimmung, aber das, was du hier ablieferst, geht gar nicht.»

«Sorry.» Ich fahre mir durch meine zerzausten Haare und blicke verwirrt auf die Seiten meiner Gitarre. Meine Finger haben die letzten Minuten von selbst gespielt und ich habe es nicht einmal mitbekommen. Bens genervtem Blick nach zu urteilen haben sie jedoch anscheinend keinen guten Job gemacht. Und meinen Gesangeinsatz habe ich auch verpasst. «Lass uns nochmal von vorne anfangen, ja?»

Ben schnauft übertrieben genervt, nickt dann aber. Nick mustert mich besorgt von seinem Schlagzeug aus, aber ich ignoriere seinen Blick und versuche, mich wieder zu konzentrieren. Ben soll auf keinen Fall mitbekommen, dass es mir wieder schlechter geht. Er braucht nicht zu wissen, was wirklich zwischen Emilia und mir geschehen ist. Vermissen tut er sie sowieso nicht. Die beiden waren nie wirklich auf einer Wellenlänge.

Auch wenn Ben Nicks Cousin und der zweite Gitarrist unserer Band ist und wir deshalb sehr viel Zeit miteinander verbringen, ist er trotzdem niemand, mit dem ich über meine Probleme sprechen würde. Dafür verurteilt er andere zu gerne und ich selbst habe ständig das Gefühl, von ihm analysiert und abgewertet zu werden.

«Okay, one, two, three ...»

Ralf, unser Bassist, zählt uns ein und wir fangen wieder von vorne an. Diesmal versuche ich wirklich, mich richtig zu konzentrieren. Immerhin kann ich die Musik jetzt wieder spüren. Sie wieder durch meinen Körper fließen lassen. Auch das funktioniert leider nicht ohne mein Gespenst. Emilia kann nicht ernsthaft verlangen ...

Stopp. Hör auf, an sie zu denken. Konzentrier dich!

Ich hasse es, wenn ich bei der Musik nicht bei der Sache bin. Musik ist mein Leben. Ich fand schon immer, dass die meisten Menschen Musik völlig missverstehen. Sie hören sie, weil sie unterhalten werden wollen. Weil sie dazu tanzen oder entspannen wollen. Aber meistens haben sie keine Ahnung, wie mächtig Musik tatsächlich ist. Musik ist lebendig. Einzelne Noten, die zusammen etwas Wundervolles ergeben. Schwingungen in der Luft, die so viel mehr in uns auslösen können, als uns bewusst ist. Die so viel tiefer gehen.

Ohne Musik würde ich durchdrehen. Ich glaube, ich habe noch nie für einen Menschen auch nur annähernd so viel empfunden, wie ich für Musik empfinde. Vermutlich liegt das daran, dass ich lieber den Lyrics eines Songs zuhöre als meinen Mitmenschen.

Die meisten reden sowieso nur Blödsinn.

Als ich zu singen beginne, vergesse ich mal wieder alles um mich herum. Ich versinke in einem Sog aus Tönen, der mich vollkommen in sich aufnimmt. Es gibt nichts, was ein vergleichbares Gefühl in mir auslöst. Dieses Gefühl, gehört zu werden. Nein, nicht nur gehört, sondern verstanden zu werden. Musik braucht keine Worte, um etwas zu sagen. Aber für mich machen Worte Musik einfach noch viel intensiver. Dieser Moment, wenn du einem Sänger zuhörst und dich in seinen Worten wiederfinden kannst. Dieser Moment, wenn du plötzlich das Gefühl hast, doch nicht allein mit deinen Problemen zu sein. Und dieser Moment, wenn auf einem Konzert tausende von Menschen dieselben Worte singen und dabei das gleiche spüren. Doch jeder den Worten eine andere Bedeutung gibt.

Diese Momente machen das Leben für mich lebenswert.

Musik verbindet uns. Musik macht uns menschlich.

Mein größter Traum ist es, selbst auf der Bühne zu stehen, während eine Halle voller Menschen meine eigenen Songs mitfühlt. Meine Zeilen, meine Worte, die sie so sehr berühren, dass sie die Augen schließen und aus vollem Herzen singen. Das muss ein unbeschreibliches Gefühl sein. Schon allein der Gedanke daran verursacht mir jedes Mal eine Gänsehaut.

The Higher You Fly ...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt