F ü n f

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Unfähig, auch nur einen Laut von mir zu geben, betrachtete ich den Mann, der nun seine Hand auf meiner Schulter abgelegt hatte und mich mit einem fast schon höflichen Lächeln ansah.
Das war also Christian Germond, Hanna's Stiefvater, der Grund für diese krasse Villa und das ganze Geld.

Er war ziemlich groß - ich würde ihn auf mindestens 1,90 schätzen - und in seinen Gesichtszügen erkannte ich tatsächlich eine erhebliche Ähnlichkeit zu seinem Sohn, dessen Gesicht ich in den vergangenen Monaten so oft im Jahrbuch bis ins kleinste Detail studiert hatte. Sie hatten die gleiche markante Nase, die gleichen vollen Lippen und auch die eisblauen Augen musste Jamie von ihm geerbt haben. Mr. Germond's Haare dagegen waren grau meliert und ordentlich zurückgekämmt und er trug, wie es sich für einen Businessmann gehörte, einen schwarzen Anzug. Das Handgelenk des Armes, der auf meiner Schulter ruhte, zierte eine schwere, goldene Uhr, bei deren Preisschild mir vermutlich schwindelig geworden wäre. Eindeutig war das ein Mann, der wusste, wie man sich verkaufte und selbstbewusst auftrat.

Ich schien wohl schon ziemlich lange geschwiegen zu haben, denn Jamie neben mir fixierte mich durchdringend mit seinen Augen, als wolle er mir etwas mitteilen und auch Mr. Germond's Lächeln hatte in der Zwischenzeit etwas an Breite verloren: »Willst du unsere Gäste nicht begrüßen, Viola?«

Nein, eigentlich wollte ich das nicht, denn dafür hätte ich wissen müssen, in welchem Verhältnis wir überhaupt standen und wie man sich in der High Society dementsprechend angemessen begrüßte, doch ich spürte stark, dass das nicht der richtige Moment für Widerspruch war und mir fiel auch keine bessere Alternative ein, also trat ich auf das Pärchen zu.

»Guten Tag, Mr. und Mrs. Roberts.«, versuchte ich möglichst überzeugt zu sagen und streckte meine Hand aus. Knicksen kam mir dann doch etwas übertrieben vor, schließlich war das nicht das britische Königshaus, sondern einfach nur zwei stinkreiche Amerikaner. Falls das die falsche Wahl gewesen war, ließen sich die beiden das nicht anmerken, denn sie ergriffen meine Hand und schüttelten sie nacheinander. Schnell stolperte ich zu dem Jungen weiter und schüttelte ihm ebenfalls die Hand, der mich daraufhin schmierig angrinste. Er war mir auf Anhieb unsympathisch.

Unsicher, wie ich fortfahren sollte, drehte ich mich zu Jamie und seinem Vater um, wobei letzterer glücklicherweise auch wieder das Wort ergriff.
»Gut, dass du jetzt da bist, Viola. Die Herrschaften und ich haben noch einiges Geschäftliches zu bereden, trotz dessen, dass unser geplantes Brunch heute leider ausfallen muss. Deine Mutter fühlt sich nicht wohl. Vielleicht kannst du dem jungen Mann in der Zeit etwas das Haus zeigen?«

Oh Gott. Ich hätte Mr. Germond gerne zwanzigtausend verschiedene Gründe an den Kopf geknallt, wieso das alles andere als eine gute Idee war, angefangen damit, dass es schwierig war, jemanden in einem Haus herumzuführen, in dem man selbst zum ersten Mal war. Hinzu kam, dass „der junge Mann" mich schon wieder so pervers angrinste und ich das ungute Gefühl hatte, ich müsste ihn kennen. Hanna müsste ihn kennen. Wie auch immer, diese ganze abgedrehte Situation ging noch nicht wirklich in meinen Kopf rein.
Ich versuchte, mich an einen letzten Ausweg zu klammern: »Eigentlich ja gerne, aber heute habe ich echt viel für die Schule zu tun, kann Jamie nicht gehen?«
Der Junge sah mich leicht verwundert an, da er damit wohl nicht gerechnet hatte. War das etwa das erste Mal, dass die Taktik „schmierige Grinsebacke" nicht auf Anhieb funktionierte? Tja, nicht mit mir. Aber auch Mr. Germond zog missbilligend die Augenbrauen zusammen: »Sei nicht so unhöflich, Viola! Dein Bruder hat keine Zeit, das weißt du ganz genau.«

Wusste ich das? Ich zwang mir ein gequältes Lächeln auf, das leider eher einer Grimasse glich als dem Zahnpasta-Strahlen, das Hanna so perfektioniert hatte. Ich musste irgendeinen Weg finden, hier herauszukommen und herauszufinden, was nun wirklich passiert war, ob es Hanna noch gab und was mit meinen Freunden und meiner echten Familie war. Da ich mir jedoch sicher war, dass es einfacher wäre, die Schmalzlocke abzuschütteln, als mich von den Erwachsenen loszueisen, nickte ich also zustimmend: »Okay.«

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 17, 2021 ⏰

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Und plötzlich war der Himmel blauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt