Kapitel 5

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Kapitel 5

Noch ein Schritt und die letzte Treppenstufe lag hinter mir. Schwieriger, als in diesem Kleid und mit meinen dünnen Schuhen da runter zu gehen, konnte es ja kaum werden.

"Das hätten wir geschafft." Julie streichelte meinen Arm.

Hinter mir war allgemeines Aufatmen zu hören. Noch ein paar dieser Stufen und ich wäre ganz schön ins Schwitzen gekommen. Es war eine Meisterleistung, über den weiten Rock nach vorne zu sehen und trotzdem nichts zu sehen.

Julie und meine Mutter führten mich durch das Wohnzimmer in den Garten. Meine Brautjungfern waren uns auf den Fersen. Sie fielen fast um vor Staunen.

"Seht euch das an."

"Da hat sich mal wieder jemand selbst übertroffen."

Mir fehlten die Worte. Ich war genauso überwältigt von dem Aufwand, den das von Julie engagierte Personal in den letzten Stunden betrieben hatte. Von dem Chaos unserer Party war nichts übriggeblieben. Stattdessen bildeten meterlange Blumengebinde aus echten Rosen einen Tunnel zum Altar. Der Weg dahin war mit einem richtigen Teppich aus Rosen ausgekleidet und endete bei einem hübsch geschmückten Holzpavillon. Sogar die Musik war live. Sie kam von einer regionalen Coverband, die öfter in Clubs und auf Festivals auftrat.

"Du bist ja verrückt", flüsterte ich Julie zu.

Sie lachte. "Für meine beste Freundin nur das Beste."

Ich war es gewohnt, auf den Hochzeiten, die meine Eltern beruflich auf die Beine stellten, das Beste vom Besten zu sehen, aber so viele Details hätten wir uns für meine eigene Hochzeit niemals leisten können. Immerhin war die Gästeliste noch überschaubar. Etwa siebzig Angehörige und Freunde unserer Familien waren gekommen.

Als sie uns sahen, herrschte ein kurzes Durcheinander. Jeder wollte einen Blick auf die Braut erhaschen. Ich lächelte angestrengt. Mattys Schwester ermunterte mich von der anderen Seite mit ihrem frechen Grinsen. Auch seine Eltern lächelten mir freundlich zu. Nur Matty sah ich nicht. Würde er mich hier hängen lassen?

"Siehst du Matt?", fragte ich Julie leise.

"Nicht bei den vielen Leuten da vorne." Sie griff nach meiner Hand. "Er ist bestimmt da."

Ich fühlte kalten Schweiß auf meiner Stirn. Diese grandiose Hochzeit wuchs mir über den Kopf. Ich hatte nicht geglaubt, dass es sich so ziehen würde, diesen Moment durchzustehen. Wir hätten besser mal heimlich durchbrennen sollen, doch das war nur ein Gedanke gewesen, den Matty, Julie und ich alle gleich wieder verworfen hatten. Jetzt wünschte ich es mir. So viel Aufmerksamkeit hatte ich in meinem ganzen Leben zusammengerechnet noch nicht bekommen.

Ich suchte weiter. Wo war Matty nur?
Mein Herz klopfte so laut, dass ich Angst hatte, jeder könne es hören. War es den anderen Bräuten vor mir auch so ergangen?

Ein paar unserer Gäste hielten spontan Handys hoch und machten Fotos. Ich wusste, dass Julie einen professionellen Fotografen beauftragt hatte, denn für später war ein Termin angesetzt. Die Gelegenheit, die ersten Fotos im Netz zu teilen, empfanden sie aber einfach als zu verlockend.

Nach einer Weile begab sich die Menge wieder auf ihre Plätze. Mein Vater, der sich zu uns gestellt hatte, löste meine Mutter und Julie ab. Die Musik änderte sich, schon ging es los. Ich klammerte mich am Arm meines Vaters fest und schritt mit ihm gemeinsam über den Rosenteppich.

Endlich setzten sich die letzten Hobbyfotografen und ich sah Matty und den Zeremonienleiter vor dem Altar. Ich kannte ihn von anderen Trauungen. Anscheinend tat mir das gut. Ein großer Stein fiel von meinem Herzen und mir wurde gleich viel leichter zumute. Über die Rosen zu gehen, war ein idiotischer Einfall, aber mein Vater hielt mich fest und nun konnte nichts mehr schief gehen.

Ich lächelte Matty an. Er kam mir im Anzug wie ein Filmstar vor, der auf eine Bühne gehörte. In Richwater lebten viele Stars und viele andere Menschen waren wegen ihnen hergezogen. Auch Mattys Familie hatte mit dem Showbusiness zu tun. Seine Großeltern waren beide berühmte Schauspieler gewesen, seine Eltern eiferten ihnen mit angestammten Rollen in TV-Serien nach.

Auf einmal sah ich Milo. Mit einem ernsten Lächeln drehte er sich zu mir um. Ohne es zu wollen, betrachtete ich sein Gesicht. Die dunklen Locken und die grünen Augen, in denen Tiefe lag. Er war immer ernster als Matty gewesen, allerdings hatte er auch härtere Lektionen gehabt. Aber das hinderte ihn nicht daran, ein zuverlässiger Freund zu sein.

Ich hielt die Luft an. Warum musste ich ausgerechnet jetzt daran denken? Mein Hirn zögerte nicht, unsere ganzen guten und schlechten Jahre vor mir abzuspulen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde kam die Erinnerung an unseren Kuss zurück und schaltete bei mir in die Notstromversorgung, die mich am Arm meines Vaters ziehen ließ. Ich konnte nicht weitergehen. Es war, als hätte ich zu große Angst davor, einen Fehler zu machen. Wenn ich Matty heiraten würde, müsste ich meinen besten Freund im Stich lassen. Nach der Hochzeit würde ich nur noch Matty gehören. Wir würden unser Studium nicht nach den Bedürfnissen anderer richten. Vielleicht würden wir ja sogar einmal in eine weit entfernte Stadt oder ein Land auf einem anderen Kontinent ziehen und Milo nur noch selten sehen. Selbst wenn wir Freunde bleiben sollten, wäre nichts wie davor. Das war es ja jetzt schon nicht mehr nach diesem Kuss.

Wir waren stehengeblieben. Mein Vater sprach mich an, ich starrte jedoch nur vor mich hin. Die Aussichten, dass alles gut werden würde, hatte ich nicht. Ich konnte Matty so nicht heiraten. Aber niemand außer mir ahnte etwas.

Road Trip - Vom Altar zu DirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt