Teil 8 - Michael

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"Michael?" Der Teenager schreckte hoch, als seine Mutter ihn ansprach, ihm dabei direkt in das Gesicht sah. So verdeckte sie auch den Blick auf die Zeitschrift, auf die Michael gestarrt hatte, in der Hoffnung ein bisschen lesen zu können, was es ihm dann doch leichter machte, sich zu konzentrieren.

"Ja?" er sah zurück und überlegte sich, was sie wohl dieses Mal von ihm wollte.

"Hast du dich gestern Nacht schon wieder rumgetrieben? Du siehst so müde aus."

Michael seufzte. "Mama... Natürlich seh ich müde aus, wie schon gesagt, ich schlafe ja nicht." er wusste nicht, was er auf ihre andere Frage antworten sollte. Auf der einen Seite wollte er ihr auf keinen Fall erzählen, dass er sich verbotener Weise wieder rumgetrieben hatte, doch irgendwie... Die nächtliche Begegnung ließ ihn nicht los und er wollte mit irgendwem darüber reden.

Seine Gedanken kreisten eigentlich permanent um den anderen, weil er einfach nicht wusste, was er von der ganzen Situation halten sollte.

Maurice wirkte irgendwie schon ganz nett, seltsam aber recht nett, aber die ganze Situation zwischen ihnen war so seltsam... Sie hatten sich nur ein paar Minuten lang unterhalten, bevor der andere geflüchtet war und Michael konnte das ganze echt nicht einordnen.

Er musterte seine Mutter und wusste, dass er früher über sowas mit seinem Vater geredet hatte. Das ging heute nicht mehr. Natürlich, er hatte jetzt Thorsten.. Aber mit dem wollte er nicht reden.

Wer blieb dann noch übrig? Eigentlich niemand, nur seine Mutter.

"Du.... Wenn ich dir was erzähle, kannst du mir dann versprechen, dass du es nicht Thorsten sagen wirst und auch sonst nicht weiter erzählst?"

"Natürlich, Micha. Du bist mein Sohn, du kannst mir vertrauen." Michael glaubte ihre Erleichterung zu spüren, als sie ihn anlächelte. Ob es sie so freute, nur weil er ihr einmal was anvertraute? Offensichtlich war es mit ihrer Beziehung doch nicht so gut bestellt, wie er gedacht hatte.

"Es hat was mit dem Foto zu tun, oder? Das, das ich nicht sehen durfte und die Adresse draufschreiben sollte, nicht wahr?"

Michael war schon drauf und dran zu nicken, doch das "Michael? Du bist dran." Der Arzthelferin ließ ihn inne halten und zu ihr sehen. Sie war blond und hatte ein blaues und ein braunes Auge, sie hatte Heterochromia iridis, ihre Lippen waren schmal und dunkelrot geschminkt.

Irgendwie war es ziemlich ironisch. Er merkte sich immer die Gesichter, weil er nicht in der Lage war, sich Namen zu merken, starrte alle neuen Menschen so lange an, bis sich ihre Züge in seinen Geist eingebrannt hatten, doch obwohl er Probleme mit solch einfachen Informationen hatte, konnte er sich Fachbegriffe für Krankheiten mehr als nur gut merken.

Vielleicht lag das daran, dass er sich mit sowas Tag ein, Tag aus herum schlug und das schon seit gut fünf Jahren.

Auch der Gang in das Behandlungszimmer lief mehr als auch automatisch ab. Er lief ihn ja alle zwei Wochen, setzte sich auch jetzt ganz brav hin, um all die Untersuchungen über sich ergehen zu lassen. Ihm blieb auch nichts anderes übrig.

~

"Micha?" er sah hoch, sah zu seiner Mutter. "Willst du ein bisschen Radio hören?" fragte sie, doch Michael schüttelte nur den Kopf. "Nein.. Schon gut. Es ist schön, wenns mal ein bisschen still ist. Thorsten macht die Musik immer so laut."

"Thorsten macht die Musik zu laut?" Michael konnte sich gut vorstellen, dass sie verwirrt war. Früher hatte er Musik gar nicht laut genug hören können. Ein paar Momente war es still, dann nickte sie mit einem Seufzen. "Ist okay. Ich sag ihm, dass er sie leiser machen soll, wenn du dabei bist."

"Mir wäre es lieber, er würde gar keine Musik hören..." nuschelte Michael leise in den nicht vorhandenen Bart und schloss wieder die Augen.

"Wolltest du mir nicht etwas erzählen?" fragte seine Mutter nach einigen Minuten des unangenehmen Schweigens.

"Was? Achso... Ja." Michael nickte, brauchte dann aber ein paar Minuten, bevor er etwas sagen konnte.

"Ich hab jemanden kennengelernt. Jemanden, der.... Seltsam ist. Seltsam, aber nett. Irgendwie. Und.... Ich weiß nicht."

"Das freut mich für dich. Wie heißt er denn? Und wie habt ihr euch kennengelernt?" Michael wusste, dass sie das nicht böse meinte, aber eigentlich wusste sie, dass er sich keine Namen merken konnte. Oder? Er war sich gar nicht so sicher, ob er ihr das jemals gesagt hatte.

"Ich... Weiß nicht. Er hat es mir bestimmt gesagt, aber..." er schüttelte den Kopf, schloss fest die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Nichts. Es wollte ihm nicht einfallen. "Aber wie wir uns kennen gelernt haben.. Das ist eigentlich ganz lustig."

Nein, es war ganz und gar nicht lustig. Aber er wollte nicht, dass sie wusste wie schlecht es ihm in letzter Zeit ging.

"Ich... Hab mich verlaufen. War ziemlich dämlich. Hatte auch kein Handy dabei und wusste nicht wie es zurück geht.. Dann hab ich ihn gesehen. Aber er hat nicht reagiert und... Naja." er lachte um die Verzweiflung zu verdecken.

"Ich dachte mir, ich kann mir ja keinen ganzen Mensch einbilden, das wäre ja... Selbst für mich zu seltsam. Und dann bin ich da in der nächsten Nacht nochmal hin.. Ich dachte, wenn ich ein Foto mache... Dann wüsste ich, dass ich mir das nicht eingebildet habe." während er so redete, war er ganz überrascht von sich selbst, weil er sich so gut an das Geschehene erinnern konnte. Das war.. Ungewöhnlich. Aber ein gutes Zeichen.

Michael schwelgte in seinen Gedanken, bis seine Mutter ihn leise ansprach.

"Er hat mich bemerkt und ist weggerannt... Und ich dachte, vielleicht... Vielleicht ist er wie ich. Und... " seine Stimme brach fast, er hatte kaum gemerkt, dass ihm das Ganze so nahe ging.

"Ich wollte ihn kennen lernen. Ich... Ich weiß nicht wieso, aber... Ich wollte ihn kennen lernen." sein Kopf sank gegen die Fensterscheibe des Autos, er sah raus und hoch zu dem blauen Himmel. Die Sonne schien. Typisch. Warum konnte es nicht einfach regnen?

"Hey, Micha.." er wusste, dass seine Mutter auch ein bisschen überfordert mit der Situation war.

"Ist schon gut." presste er hervor. "Fahr einfach weiter, ich will nach Hause." und das stimmte. Er hatte versucht, sich zu öffnen, aber.. Jetzt reichte es auch. Die Besuche beim Arzt oder im Krankenhaus machten ihn psychisch jedes Mal aufs Neue so fertig, dass er am liebsten schlafen würde. Aber.. Das ging ja nicht.

Er weinte einfach nur stumm vor sich hin, während in seinem Kopf immer und immer wieder der gleiche Lyrics-Schnippsel dröhnte.

"I'm passing over you like a satellite
So catch me if I fall"

Midnight Tears ~ ZomdadoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt