Prolog

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Ängstlich hielt das Mädchen ihren kleinen Bruder fest an sich gedrückt. Vor ihr war das Chaos pur. Kurz zuvor war sie noch mit ihren Eltern friedlich in ihrem alten Bauernhaus gesessen und hatte ihren kleinen Bruder dabei beobachtet wie er immer mehr der Bauklötze, die einmal ein Weihnachtsgeschenk von ihrem Vater waren, aufeinander gestapelt hatte. Immer größer wurde der Turm und der neun-jährige Junge grinste von einem Ohr zum anderen voll Freude. Er war schon neun aber laut seinen Arzt entwickelte er sich eben langsamer. Er hatte eine Behinderung, aber für das Mädchen war das nicht von Bedeutung. Jetzt war von dem Grinsen nichts mehr übrig und sein Blick war voller Verwirrung und Angst. Angst davor was jetzt geschehen würde.

Und Verwirrung.

Die Verwirrung war das schlimmste. Man wusste nicht was kommen würde und man konnte es nicht bestimmen.

Alles ging so schnell. Die Männer kamen rein und Mutter und Vater sprangen auf. Sie versuchten das Mädchen und den Jungen zu verstecken, allerdings war es zu spät. Nur weil sie anders waren. Nur weil sie nicht immer der gleichen Meinung waren. Nur weil sie einer Minderheit angehörten. Nur weil sie an etwas bestimmtes glaubten und nicht von ihrem Glauben abließen. Denn für das 17-jährige Mädchen gab es nichts schlimmeres als den Glauben zu verleugnen. Es wäre als würde man die Heimat verleugnen. Doch was tat man nicht immer für das Leben. Bis jetzt hatte sie sich geschworen nie auch nur im entferntesten daran zu denken ihren Glauben zu verleugnen. Doch jetzt, war sie nicht mehr dieser Meinung. Denn es war doch ihr Leben! Das konnte man doch nicht so einfach wegwerfen? Sie hatte viele Berichte gehört über Heilige die ihr Leben für den katholischen Glauben gaben. Aber war sie denn dazu bereit? Sie war doch erst 17!

All diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf als sie in den großen Zug verladen wurde. Nett waren die Männer auf keinen Fall. Allerdings war das Mädchen so in Sorge über ihre Eltern, dass sie sich über die Grobheit der Soldaten erst später Gedanken machen konnte. Denn ihre Eltern konnte sie in der großen Menschenmenge nicht erkennen. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und reckte den Kopf in die Höhe um irgendwo bekannte Köpfe sehen zu können, sie hatte kein Glück. Drängelnd versuchte sie zurück zu ihrem Haus zu kommen, um dort zu sehen ob irgendetwas war, was ihr einen Hinweis geben könnte auf den Verbleib ihrer Eltern.

Keine Chance.

Die Soldaten achteten weder auf sie noch auf das neunjährige, mittlerweile weinende Kind in ihren Armen. Sie wurde einfach zurück gedrängelt. Immer wieder zu dem Zug. Egal wie laut sie schrie, egal wie bitterlich sie weinte. Es war ihnen vollkommen egal.

Es blieb ihr nichts anderes übrig als sich mittreiben zu lassen und dicht an dicht in den Zug gedrängelt zu stehen. Hinter ihr, vor ihr und neben ihr. Überall verängstigte Menschen, die nur hofften zu überleben. Das alles hier. Denn es war klar wohin es jetzt gehen würde.

In den Tod. Mitten hinein. In sogenannte KZ. Konzentrationslager. Oder Arbeitslager. Es ist vollkommen egal wohin. Beides ist der Tod. Denn der Führer mochte keine Leute die Glauben hatten. Für einen Glauben würde man kämpfen. Wofür kämpft man denn ohne Glauben? Für nichts. Für Freiheit? Freiheit haben diejenigen die ihm gehorchen und seine Regeln befolgen. Nur diejenigen die sich auflehnen, sind tot. Sie haben keine Zukunft.

Und so ging es wahrscheinlich ihren Eltern. Ein falsches Wort und sie wären tot. Dabei hatte sie nicht einmal Schüsse vernommen. Plötzlich griff sie jemand von hinten an. Erschrocken drehte sie sich um und sah in ein verzweifeltes Gesicht, welches sich sofort aufhellte als es sie erkannte.

"Vater!", rief das Mädchen und auch der kleine Junge auf ihrem Arm schluchzte erleichtert auf. Sofort übergab das Mädchen ihren kleinen Bruder dem Mann und erblickte hinter ihm ihre Mutter.

"Mutter!", das Mädchen rief noch einmal einen Freudenschrei in so einer absurden Minute aus. Sie dachte schon alles wäre aus. Ihre Eltern wären tot oder einfach verschollen. Und jetzt vergrub sie ihr Gesicht in der dünnen Weste, welche ihre Mutter anhatte.
"Ich hab solche Angst!", schluchzte das Mädchen und ließ ihren Tränen freien Lauf.
"Das ist alles meine Schuld", weinte das Mädchen weiter und die Mutter nahm sie einfach in den Arm.
"Nein, nein, nein! Das hier ist nicht deine Schuld", versuchte die Mutter sie zu beruhigen.
Die Mutter blickte auf das Mädchen in ihren Armen hinunter, eine Träne lief ebenfalls über ihr Gesicht. Schnell wischte sie sich mit dem Handrücken über die Wange und verwischt so ein bisschen Dreck auf ihrer Wange. Die letzten Minuten waren für die die schlimmsten ihres Lebens gewesen und sie wusste es würde nicht besser werden.

"Ich bin bei dir, mein Schatz. Ich bin hier.", versuchte die Mutter das Mädchen weiter zu beruhigen. Sie wusste nicht ob sie dieses Versprechen halten konnte, aber sie würde es versuchen. Und wenn sie ihr Leben dafür geben würde, sie würde es versuchen.

Der Junge in den Armen des Vaters hatte sich mittlerweile beruhigt und schlief. Das Mädchen wünschte sich ebenfalls sie könnte schlafen, doch in diesem Zug würde das nie und nimmer funktionieren. Die Menschen standen so dicht beieinander das man überall anstand. Die Frau hatte die Arme beschützend um ihre Tochter gelegt und der Kopf des Mädchens ruhte auf der Schulter ihrer Mutter. Plötzlich stieg ein fast unerträglicher Geruch auf. Verwundert hob das Mädchen den Kopf. Irgendwie bekam sie mit das es anscheinend jemand nicht mehr geschafft hatte seinen Blasendrang zu widerstehen. Der Geruch war bestialisch. Angewidert verzog das Mädchen ihr Gesicht und vergrub ihr Gesicht in der Halsbeuge ihrer Mutter.
Nach mehreren Tagen, das Mädchen hatte ihr Zeitgefühl komplett verloren, hielt der Zug an. Die Ladeluke ging auf und davor standen mehrere Männer in Uniformen. Die Menschen drängten hinaus. Das Mädchen hielt sich die Hand vor um nicht von der Sonne geblendet zu werden.
Immer wieder schrie einer der Soldaten: "Links, rechts, links, rechts, links, rechts". Vorne teilte sich die Menschenmenge und ein gewisser Teil ging nach links der andere nach rechts. Das Mädchen wusste rechts hieß leben, links sterben. Nach einer gewissen Weile stand das Mädchen vor dem Soldaten. Er ging um sie herum und betrachtete sie genau. Der Mutter gefiel das alles nicht und sie versuchte dem Mädchen zu helfen doch das alles half nicht.

Das Mädchen spürte wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Dieser Mann hatte die Macht mit einem Wort ihr Leben zu bestimmen. Ob sie sterben würde oder leben. Schließlich ertönte die tiefe Stimme des Mannes: "Rechts!" Das Mädchen atmete aus und erst jetzt bemerkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie ging nach rechts und stellte sich zu der dort beisammen gequetschten Truppe. Und nun war ihr Leben besiegelt. Sie würde wahrscheinlich hier sterben, wenn nicht der Krieg vorher endete. Die kleine Truppe setzte sich in Bewegung und mussten um die 5 km gehen. Ihre Füße taten weh und das Mädchen hatte keinen blassen Schimmer wo ihre Familie steckte. Plötzlich spürte sie einen Fußtritt in ihr Knie. Sie stolperte und fiel fast, wenn da nicht eine starke Hand gewesen wäre. Sie hangelte sich an der Hand hoch und murmelte ein kurzes 'Danke'.
"Kein Problem", kam zurück. Das Mädchen hob verwundert den Kopf und sah in das Gesicht eines ihr noch unbekannten Mannes. Sie schätzte ihn auf ungefähr 18. Seine himmelblauen Augen waren abgestumpft und leer. Endlich waren sie am Tor zu dem Lager angekommen. Dann mussten sie sich an der Mauer aufstellen. Die Kleidung wurde ihnen weggenommen und nun standen sie nackt da.

Und das Mädchen wusste, hiermit wäre ihr Leben besiegelt. Es gäbe kein Entkommen mehr. Sie würde hier sterben, sie war sich sicher.

Escape or fight?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt