Ihr Name war Alice. Alice Green. Ich traf sie an einem warmen Frühlingstag im Park. Anfangs war sie mir gar nicht aufgefallen. Wochenlang ging ich an ihr vorbei. Ihr, dem Mädchen mit dem lang gelocktem Haar in diesem wunderschönen Kastanienbraun. Stets trug sie die rosa Mütze und den selbfarbenden Schal tief ins Gesicht gezogen und hin und wieder nahm ich den süßen Duft ihres Parfüms wahr, welcher unter der Lila Jacke hervorkroch. Das einzige was man an ihrem Gesicht erkennen konnte waren die Augen. Dunkelgrün und umrahmt von einem Meer aus dichten Wimpern. Ich wusste nicht warum sie dort saß oder was sie hier tat. Ehrlich gesagt war es mir auch egal. Naja, bis zu diesem Tag im März.
Unsicher steht der Junge am Rand des Weges und beobachtete die junge Frau auf der Bank gegenüber. Er tat es seit einigen Tagen, seit fünf um genau zu sein. Rund um die beiden herum hat es bereits zu tauen begonnen. Dieser Winter war kurz gewesen. Der letzte Schnee war zu einem einzigen Häufchen in Mitten der Wiese zusammengeschmolzen. Während der Junge seine dicke Winterkluft schon im Kasten verstaut hat, sitzt das Mädchen immer noch in einen Parker gehüllt und umwickelt von Stoff da. Diese Tatsache fasziniert ihn so an ihr.
Vor zwei Tagen hat sie ihn ebenfalls bemerkt. Wie seine braunen Augen täglich zu ihr herüber schielen und wie er schnell wegsieht, wenn sie ihren Blick auf ihn wendet. Er kam immer zur gleichen Zeit und ging auch immer exakt zur selben Zeit. Auch an diesem Samstag bemerkt sie es.
Das Spiel mit dem an und wieder wegsehen geht ungefähr eine halbe Stunde lang, ehe er seine in Convers steckenden Füße in Bewegung setzt und auf die Bank zugeht. Sein ganzer Mut steckt in diesen Schritten und er weiß, wenn er es jetzt nicht tut, wird er es nie tun. Langsam setzt er sich dann zu dem Mädchen.
Sie schweigen. Eine ganze Weile lang. Keiner sagt etwas, die einzigen Geräusche sind ihr Atem und der Verkehrslärm hinter den Bäumen. „Ich heiße Ethan. Ethan Miller“ bricht er irgendwann die Stille und nach wenigen Sekunden dringt ein leises, „Alice. Alice Green“, unter dem Schal des Mädchens hervor. Ethan nickte in die Luft und erklärt: „Freut mich dich kennenzulernen Alice Green“. Stille. Abermals herrscht Stille. „Woran denkst du?“ fragt Alice plötzlich und der Junge sieht sie verwirrt an. Er hatte nicht mit so einer Frage gerechnet. Warum auch? Als er nicht antwortet wiederholt sie geduldig: „Woran denkst du Ethan Miller?“.
Kurzes zögern. „Ich frage mich, was du hier machst“. „Ich sitze“. „Nein, das mein ich nicht. Warum sitzt du hier?“. „Es gefällt mir hier.“ „Ist das alles?“ „Ich mag es den Autolärm zu hören und zu wissen, dass er hier nicht hinkommt.“ „Den Autolärm? Er ist das Einzige, was mich hier stört.“ „Dann hörst du nicht richtig hin.“
Ethan weiß nicht so recht, was er darauf erwidern soll. Kurz zupft er an seiner schwarzen Lederjacke rum ehe beide wieder still da sitzen. Es dämmert bereits, als Ethan sich das nächste mal Mut fast.
„Ist dir nicht warm?“ „Nein.“ „Nicht mal ein bisschen?“ „Nein.“ „Mir wäre warm.“ „Achja?“ „Der Schal muss dich doch sicher beim Atmen hindern.“ „Tut er nicht.“ „Sicher?“ „Ja.“ „Warum trägst du ihn so tief ins Gesicht gezogen?“ „Um mich zu schützen.“ „Zu schützen? Es weht weder ein eisiger Wind, noch ist es so kalt, als das einem die Nase abfrieren könnte, wovor schützt du dich den?“ „Vor dem Autolärm.“
Verwirrt blickt der Junge das Mädchen an. Sieht ihr in die wunderschönen Augen, welche ein noch viel schöneres Gesicht vermuten lassen. Gerade hatte sie noch gesagt, sie mochte den Verkehrslärm und jetzt wollte sie sich davor schützen? „Ich versteh dich nicht Alice Green.“
Der Junge sieht das Lächeln nicht, welches sich unter ihrem Schal abzeichnet, während sie sich langsam von der Bank erhebt. „Das wirst du schon noch. Es war schön dich kennengelernt zu haben Ethan Miller.“
Er Blickt ihr nach, als sie davon zieht.
Als Ethan am nächsten Tag zur Bank kommt ist sie leer und auch an den folgenden Tagen erscheint Alice nicht. Einzig allein einen Zettel findet er vor. Wenige Tage nach Alice verschwinden. Es ist ein Zeitungsartikel. Neutral schildert er von einem schrecklichen Unfall. Ein Mädchen war von einem Auto angefahren worden. Der Aufprall ließ sie über den Asphalt schlittern. Es war Hochsommer. Ihr halbes Gesicht wurde weggebrannt.
Ethan liest den Artikel mehrmals durch. War es das, was Alice mit ihren letzten Worten gemeint hatte?
Ethan sah Alice nie wieder. Sooft er auch zu dieser Bank ging, nie war ein Mädchen dort. Wenige Jahre später ereignete sich ein Unfall an der Straße hinter dem Park. Ein betrunkener Autofahrer übersah eine Ampel und raste auf ein vierjähriges Kind zu. Im letzten Moment gelang es einer Frau mit kastanienbraunem Haar und lila Jacke das Kind weg zu stoßen. Ihr Schal war tief in ihr Gesicht gezogen. Das Auto erwischte sie frontal. Jede Rettung kam zu spät. Niemand wusste wer sie war oder woher sie kam. Ihre Identität wurde nie festgestellt. Das einzige was man von ihr wusste, war, dass sie ein Lächeln auf den Lippen hatte als man sie fand.
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Kurzgeschichten
Short StoryDa ich gerne schreibe, aber noch nicht wirklich Ideen für etwas längeres habe, möchte ich hier ein paar (teilweise wirklich kurze) Kurzgeschichten veröffentliche. Die Themen werden ganz unterschiedlich sein. Viel Spaß beim Lesen.