Zeit zu gehn

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Harper steht zögernd in der Badezimmertür und beobachtet das Mädchen. Ihr langes, schwarzes Haar fällt in schönen Wellen über ihre Schulter, während das Nussbraune des Mädchens zerzaust und verfilzt an ihrem Kopf klebt. In Harpers Augen ist sie noch ein Kind. Eines, das viel zu früh erwachsen werden musste. Das bodenlange weise Kleid mit den schwarzen Rußflecken streift den feuchten Boden des Raumes und zieht sich langsam mit der Flüssigkeit voll. Wie gerne sie eingreifen würde.
Das sechzehnjährige Kind erbricht schon wieder. Es ist ein erbärmlicher Anblick wie sie blass und kraftlos am Toiliettendeckel hängt, sich nur mit Mühe über den Rand beugen kann und doch das meiste daneben geht. Sie sitzt in ihrem eigenen erbrochenen, die zerrissene schwarze Jeans halb ausgezogen und das Haar samt dem darunterliegenden weißen T-Shirt mit dem Logo einer Band, deren Namen Harper schon wieder vergessen hat, voller Brocken von Halbverdautem. Sie erinnerte sich wie sie ihr das Shirt gekauft hatte. Das Mädchen war damals überglücklich gewesen jetzt würde sie es sicher nie mehr anziehen.
Wenn Harper noch riechen könnte, sie würde sich vermutlich selbst übergeben.
Das Mädchen beginnt zu schreien. Zuerst panisch, dann wütend und zu guter Letzt nur noch von einem schluchzen geprägt. Sie weint.
Harper würde gerne auf sie zu gehen, ich mit der Hand über die Haare fahren, sie ihr halten während ihre Galle den Weg nach oben findet, aber sie kann es nicht. Sie würde ihr gerne sagen, dass alles wieder gut werden wird. Stattdessen steht sie regungslos da und beobachtet nur.
Ihr Blick fällt auf eine Spritze und die danebenliegende Wodka Flasche. Halbleer. 
Was war nur passiert?
Früher musste Harper immer nach Monstern unter dem Bett des Mädchens suchen, heute stecken diese Monster in dem Kind und sie kann nichts mehr gegen sie unternehmen.
Wenn Harper gekonnt hätte wäre sie geblieben, aber das Leben macht nicht immer das, was man gerne hätte. Sie hatte das Mädchen alleine gelassen und die Konsequenzen muss sie nun mit ansehen.
Ihr Blick wendet sich von dem Mädchen ab, ihrem Mädchen, und fällt auf die Urne am Kamin im Zimmer nebenan. Sie will nicht dorthin zurück, aber sie weiß dass sie es muss. Sie muss ihre Prinzessin schon wieder verlassen, doch sie weiß, dass sie sie bald wieder sehen wird, so wie sie ihren Mann wieder gesehen hat. Es wird nicht in der Welt des Mädchens stattfinden. Es wird in Harpers Welt stattfinden und dieser Gedanke erfüllt sie mit Schmerz. Das Kind ist doch noch so jung.
Das Mädchen greift erneut zur Flasche. Wie gerne Harper doch eingreifen würde, doch sie kann nur daneben stehen. Sie kann nur schweigend beobachten. Zu sprechen würde auch nichts bringen, denn sie weiß: das Mädchen kann sie nicht hören

Lautlos fliest eine Träne über Harpers Wange. Auch sie muss weinen. Weniger der Anblick des Mädchens, als der Blick auf die Uhr bereitete ihr die Schmerzen. Der Zeiger nähert sich mit schnellen Schritt der vollen Stunde. Harpers Zeit ist gleich vorbei. Sie würde zurück müssen.

Harper weiß, dass es nicht ihr letzter Besuch sein wird. Sie war schon oft hier gewesen, hatte dieses Bild schon oft gesehen und dennoch hofft sie insgeheim, dass es das letzte Mal sein würde. Auch wenn es bedeutete, dass das Mädchen dann sie besuchen kommen würde. Harper will nicht, dass das passiert.

Diesmal dauert es länger als normalerweise. Es würde knapp werden. Harper scheint es, als ob es diesmal tatsächlich nicht klappen könnte. Sie weiß, dass das Mädchen nicht sterben will.

Als Harper schon denkt es wäre zu spät, geschieht dann alles schnell. Der Mann vom Rettungswagen stürmt herein. Er zögert keinen Moment. Er weiß, was zu tun ist.

Harpers Zeit ist gekommen. Ein letzter Blick auf Ana, ein letztes ‘Es ist noch zu früh mein kleiner Engel. Bald kommst du zu mir, doch nicht heute kleiner Engel‘ und schon dreht sie sich um. Der Saum des Kleides streift ein letztes Mal den feuchten Boden, während Harper das Geschehen verlässt.

Nicht lange und das Spiel wird von vorne losgehen. Vermutlich das letzte mal. Harper wird wieder kommen, wenn Ana den Notruf wählt. Wenn sie den immer kürzer werdenden Abstand abwartet, ehe sie die Spritze zückt und zur Flasche greift.

Doch nächstes Mal wird Harper warten. Sie wird bleiben bis zum Schluss. Und sie wird Ana in den Arm nehmen, wenn sie ihre Tochter nach all den Jahren wieder bei sich begrüßen kann.

Harper weiß, dass es einige Zeit dauern wird und sie weiß auch, dass es dennoch viel zu wenig Zeit ist.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 04, 2015 ⏰

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