«Mama! Alexander hat schon wieder meine Buntstifte genommen!», schreit Joyce durch das Haus. Lune seufzt. «Alexander gib deiner Schwester die Buntstifte zurück», ruft sie aus der Küche in das Wohnzimmer. Mit der Rückseite ihres rechten Handgelenkes streicht sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Danach legt sie ihre rechte Hand neben die linke auf den Rand des Abwaschbeckens und stützt sich darauf ab. Ihren Kopf neigt sie nach unten und atmet tief ein. Warum nur, muss es so anstrengend sein, denkt sie sich bei sich.
Seit einiger Zeit läuft alles drunter und drüber. Naja, eigentlich nicht wirklich. Der Alltag hatte sie absolut fest im Griff. Seit einem Jahr oder doch schon anderthalb Jahren ist es anders. Wohl eher anderthalb Jahren. Denkt sich Lune und richtet sich wieder auf, um weiter den Abwasch vom Mittagessen zu erledigen.
Lune schrubbt die Teller ein wenig energischer als nötig. Joyce mit ihren 12 Jahren ist ein absoluter Wirbelwind und langsam in der Pubertät. Alexander mit seinen 10 Jahren treibt mich genau so in den Wahnsinn. Die beiden haben einfach viel zu viel Energie. Und Benjamin war wieder einmal nicht hier zum Mittagessen. Erstaunt hält Lune inne. Seit wann nennt sie ihn nicht mehr Ben? Wann hat es angefangen so zu werden, wie es ist?
Den letzten Teller legt sie auf die Abtropffläche, trocknet mit einem Handtuch ihre schrumpeligen Finger und setzt sich seitlich auf einen Stuhl. Ihren linken Ellbogen stellt sie auf die Tischplatte und stützt ihren Kopf darauf. Der Kopf schmerzt und Lune bemerkt, wie die Migräne, welche sie seit einiger Zeit begleitet, wieder komplett zurückkommt. Sie sollte sich hinlegen und einfach eine Runde schlafen. Das tat sie seit ... Lune stutzt. Sie weiss nicht einmal mehr, wann sie das letzte Mal so richtig gut geschlafen hat. Das Einzige was sie weiss ist, dass sie das Letzte Mal so schlecht geschlafen hat, war als Alexander sich begann zu wandeln und sehr starke Schmerzen hatte. Und dies ist jetzt immerhin schon beinahe 6 Jahre her.Lune steht vom Stuhl wieder auf und trocknet noch die Teller ab, bevor sie ins Wohnzimmer geht und ihre beiden Kinder auf dem Boden sieht. Joyce völlig in ihr Ausmalbuch vertieft. Anscheinend hat sie die Buntstifte von Alexander zurückbekommen und dieser spielt mit seinen Autos auf dem Strassenteppich. Beide nehmen keine Notiz davon, dass ihre Mutter in den Türrahmen gelehnt ihnen zuschaut.
Nach einer Weile dreht sich Lune um und geht in den Flur. Bei den Bildern bleibt sie stehen und schaut sie sich an. Das neuste an dieser Wand ist von Alexander und Joyce, welche zusammen auf der Veranda ein Eis essen. Lune schaut sich die Bilder weiter an und ihr Blick fällt auf ein Bild von ihr und Benjamin. Das Bild ist schon 3 Jahre alt, aber auf diesem Bild sehen beide erholt aus. Sie lachen beide mit einem grossen Lächeln in die Kamera. Während Benjamin seine linke Hand in der Hosentasche hat und die rechte mit der linken Hand von Lune verschränkt, lehnt sich Lune an Benjamin und hat ihre rechte Hand auf ihren verschränkten Händen. Wann haben wir zwei das letzte Mal so ausgesehen? Fragt sich Lune und ist schon den Tränen nahe. So lange fühlt sie schon die Distanz, aber richtig realisiert hat sie es nicht. Bis jetzt hat sie es eher ignoriert und auch jetzt kann sie es noch nicht richtig fassen, dass sie und Benjamin nicht mehr das Paar sind, das auf dem Foto zu sehen ist.
Lune wischt sich mit den Händen über das Gesicht und wendet sich wieder von den Bildern ab. Sie geht ins Wohnzimmer wo ihre beiden Kinder immer noch friedlich ihre eigenen Sachen machen. Das kann jeden Moment ändern und dann kriegen sich die beiden wieder in die Wolle.Lune legt sich aufs Sofa. So kann sie versuchen ein wenig zu schlafen, hat aber gleichzeitig ihre Kinder in der Nähe, falls etwas wäre. Denn es ist auch schon vorgekommen, dass die beiden, statt sie zu suchen, nach draussen gingen und dann herumstreunten. Momentan ist es zwar ruhig und es gab schon lange keine Unstimmigkeiten bezüglich der Rudelgrenzen oder anderweitiger Rudelübergreiffender Sachen gab, aber man weiss nie
Langsam dämmert Lune weg.Währenddessen sitzt Benjamin in seinem Büro und grübelt. Schon wieder war er beim Mittagessen nicht bei seiner Familie, obwohl er sich einmal gesagt hat, dass er immer zum Mittagessen nachhause ginge, um möglichst viel Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Aber nun da er so überlegt, fällt ihm nicht einmal mehr ein, wann er das letzte Mal mit seiner Familie zu Mittag gegessen hat.
Er lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und seufzt. Sein Blick fällt automatisch auf das Familienfoto auf seinem Schreibtisch. Es ist 4 Jahre alt und man müsste eigentlich mal ein Neues machen.
Auf dem Foto sitzt Joyce auf seinen Schultern. Mit 8 Jahren ging das ja gerade noch, jetzt mit 12 Jahren würde das schon schwieriger werden. Er schmunzelt, als er sich vorstellt, dass Joyce nun mit 12 auf seinen Schultern sitzt.
Joyce hält sich an seiner Stirn fest, während seine Hände auf ihren Schienbeinen liegen. Sie grinst mit dem breitesten Lächeln in die Kamera, welches sie kennt. Rechts neben ihm ist Lune. Sie ist in der Hocke und hat ihre Arme um Alexander gelegt, welcher so spitzbübisch in die Kamera schaut, wie er nur kann. Benjamin muss schon nur grinsen, wenn er dieses Lächeln auf dem Gesicht seines Sohnes sieht und schon erahnen kann, dass er etwas ausgefressen hat.
Sein Blick gleitet vom Familienfoto zu einem Foto von ihm und Lune. Dasselbe Foto, welches bei ihnen Zuhause im Flur hängt. Er liebt es. Sie sehen beide so glücklich aus.Benjamin schüttelt den Kopf und seufzt. Wann haben wir uns nur so entfremdet Lune? Fragt er sich in Gedanken und beugt sich wieder über den Schreibtisch, um weiter zu arbeiten. Aber so richtig konzentrieren kann er sich nicht. Die ganze Zeit stellt er sich fragen, fragt sich, ob er Anzeichen der Entfremdung übersehen hat oder ob er am Ende vielleicht sogar noch Schuld daran hat.
Benjamin öffnet eine App auf seinem Desktop. Tagebuch. Kurz ist er in Versuchung, ob er das Tagebuch von Lune öffnen soll.
Am Ende entscheidet er sich dagegen und öffnet stattdessen seines und erschrickt ein wenig. Sein letzter Eintrag ist mehr als ein Jahr her. Er öffnet ihn und beginnt zu lesen.
Schon nach kurzer Zeit schliesst er die App wieder und wischt sich mit den Händen fahrig über das Gesicht.
Warum habe ich es nicht gesehen? Warum, warum, warum. Fragt er sich in Gedanken, während er aufsteht und in seinem Büro herumtigert.
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Ich bin deine Soulmate 2
WerewolfDer Alltag hat Lune und Ben (Benjamin) eingeholt. Seit Jahren geht alles seinen geregelten Ablauf und niemand fühlt sich bedroht. Die Kinder wachsen behütet auf und auch mit Jerome geht es seinen gewohnten Gang. Doch niemand ahnt etwas von der Gefah...