20. Kapitel

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Angespannt saß ich an dem riesigen Konferenztisch der T. H. Fabrik, benannt nach ihrem Gründer Tenner Hansen, und wartete auf Peter Jones, der sich ein Interview hinsichtlich der Wichtigkeit dieses Standortes für die Einwohner von Detroit erhoffte. Die T. H. Fabrik stellte seit Jahrzehnten Autotüren her und verfügte mit Sicherheit über tausende Angestellte, die ohne diesen Job in den schlimmsten Ecken dieser Stadt landen würden. Peter Jones war der Personalchef, zuständig für alle Neueinstellungen, Kündigungen und sämtliche andere personelle Angelegenheiten. Und außerdem war er mein Mörder.

Nachdem ich diese lächerliche Panikattacke überwunden hatte, war ich zu einem Diner zwischen Dearborn und Detroit gefahren, hatte einen fettigen Burger gegessen und war das Gespräch an die hundert Mal durchgegangen. Es blieben nur zwei Möglichkeiten: Justin Clearwater war ein verdammt guter Schauspieler und hatte es irgendwie geschafft, meine Intuition zu manipulieren oder er war derjenige von beiden, der unschuldig war. Ich rechnete also damit, jeden Moment dem Mörder gegenüber zu sitzen. Komischerweise erhöhte sich bei diesem Gedanken nicht einmal mein Puls – vielleicht, weil ich schon genug Angst für einen Tag gehabt hatte und mein Körper nicht einmal mehr dazu in der Lage war, in irgendeiner Art und Weise angemessen hierauf zu reagieren.

Auch die von mir gestern erstellten Fragen waren wieder in meinem Kopf, doch ich hatte die Möglichkeit der direkten Konfrontation für mich entdeckt und würde dies ausprobieren. Im Gegensatz zu Justin Clearwater konnte Peter Jones sich als vielbeschäftigter Mann nur zehn Minuten, die genaustens abgepasst waren, für mich Zeit nehmen. Seine persönliche Assistentin hatte mir unmissverständlich klar gemacht, wie wenig Aufmerksamkeit er mir schenken konnte – sie war definitiv schwerer zu überzeugen, als die Sekretärin in der High-School. Zusammenfassend hatte er keine Zeit, mich auf der Stelle umzubringen, was eine weitere Erklärung für meine innere Ruhe sein könnte.

Abwartend legte ich meine Hände auf dem Mahagonitisch ab, denn das Pfefferspray hatten sie mir bei der Eingangskontrolle vorübergehend abgenommen. Es hatte also ohnehin keinen Sinn, meine Hand in der nunmehr leeren Manteltasche zu vergraben; es würde mich lediglich unsicherer fühlen lassen, als ich in diesem Augenblick tatsächlich war. Alles würde wieder in Ordnung kommen, er konnte mir nichts antun, ich konnte hier in dieser Situation nur als Siegerin herausgehen.

Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, genau in dem Moment, in dem die Tür zum Konferenzraum aufging. Der Mann, der den Raum bedächtig und anmutig betrat, lächelte mich freundlich an. Sein Anzug war maßgeschneidert und hatte keine einzige Falte. Sein blondes, schütteres Haar war zurückgegelt und seine grünen Augen musterten mich neugierig. Mit großen Schritten kam er auf mich zu, was mich automatisch dazu veranlasste, aufzustehen. „Guten Tag, ich bin Peter Jones. Es freut mich sehr, dass Sie hier sind." Seine tiefe Stimme war freundlich, doch jagte sie mir einen Schauer über den Rücken. War dies die letzte Stimme, die Alejandra in ihrem Leben gehört hatte?

„Sophia Dubois", stellte ich mich vor, während er sich gegenüber von mir niederließ. Obwohl ich noch immer keine Angst verspürte, war ich dennoch erleichtert, ihn in solch einer Entfernung von mir sitzen zu haben. Ich beobachtete ihn dabei, wie er sein Smartphone aus der Jacketttasche holte, darauf herum tippte und es kurze Zeit später auf den Tisch vor sich legte. Dadurch konnte ich erkennen, wie darauf ein Timer ablief. Offenbar plante er alles sehr genau – auch den Mord?

„Schön Sie kennenzulernen, Sophia. Normalerweise führe ich gerne kurz Smalltalk, aber wie Sie wissen, konnte ich mir heute nur zehn Minuten für Sie Zeit nehmen. Ihr Besuch war überaus spontan. Also stellen Sie mir ruhig Ihre erste Frage."

Ich schloss kurz die Augen, ehe ich ihn genaustens fixierte. Wie auch bei Justin Clearwater wollte ich keine einzige Reaktion seinerseits verpassen, sondern mir jedes einzelne Detail einprägen, um es später mit einem Experten durchzusprechen. Nur um sicherzugehen, dass er tatsächlich der Mörder war – wenn Peter Jones sich nicht selbst verraten würde, was noch immer ein kleiner Teil in mir hoffte.

Da ich die Frage heute bereits einmal gestellt hatte, kostete es mich dieses Mal nicht so viel Überwindung. Dennoch spürte ich endlich wie Adrenalin durch meine Adern schoss.

„Haben Sie Alejandra Gonzalez umgebracht?"

Noch in der Sekunde, in der ich ihm die Frage stellte, wurde er blass. Wenige Wimpernschläge später erkannte ich, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten, die er mit zitternder Hand wegwischte. „Wen?", fragte er fast schon gefährlich ruhig, doch ich konnte die Verunsicherung beinah heraushören. Es war die Art, wie er das Wort betonte, seine Stimmlage, die vorher so viel mehr Selbstvertrauen ausgestrahlt hatte. War es nun wirklich so einfach? All diese Arbeit für einen Mann, der sich in dem Bruchteil einer Sekunde selbst verraten hatte? Fast war ich enttäuscht darüber, wie einfach das nun gewesen war. Immerhin musste ich jedoch so nicht Chad um Verzeihung bitten, um ihn im Nachgang all das hier zu gestehen und abermals um Hilfe zu bitten.

„Sie wissen schon. Die Prostituierte, auf die Sie immer wieder mit einem Messer eingestochen haben. Ich habe die Leiche entdeckt und werde dafür sorgen, dass Sie zur Rechenschaft gezogen werden." Nur wie? Gerade noch hatte ich die Auflösung als einfach empfunden, doch dabei eines vergessen: Ich hatte keinerlei Beweise. Stattdessen saß ich dem Mörder gegenüber, der nun meinen Namen kannte und wusste, wie ich aussah. Ich brauchte dringend Beweise, bevor er die Gelegenheit hatte, mich aus dem Weg zu schaffen. Warum hatte ich da nicht dran gedacht?

Zum Glück saß ich noch auf dem gemütlichen Lederstuhl, denn ansonsten wäre ich umgekippt. Meine Knie wurden weich und zum wiederholten Male an diesem Tag spürte ich, wie das Atmen mir schwerer fiel. Dennoch versuchte ich weiterhin fokussiert den großen Mann mir gegenüber anzuschauen, der sich nochmals den Schweiß von der Stirn wischte und mich dann mit einem breiten Lächeln bedachte, das Übelkeit in mir aufsteigen ließ. Dabei entblößte er eine Reihe vergilbter Zähne, die so gar nicht zu seinem sonst makellosen Auftreten passen wollten.

„Das ist lächerlich, Miss Dubois. Ich habe niemanden umgebracht. Und nun möchte ich meine Zeit nicht weiter mit Ihnen verschwenden. Schönen Tag noch." Langsam, fast schon gemütlich, schob Peter Jones mit einem furchtbaren Geräusch seinen Stuhl auf dem Holzboden zurück, stand auf und strich sein Jackett glatt. „Ich denke, Sie finden selbst heraus."

Ich war nicht mehr in der Lage, ihn mit irgendwelchen Worten aufzuhalten und sah so einfach machtlos dabei zu, wie er den Konferenzraum verließ, obwohl die zehn Minuten noch lange nicht um waren. Aber was brauchte ich noch mehr, als diese erste, ungefilterte Reaktion? Peter Jones war der Mörder.

Und ich war ihm direkt in die Arme gelaufen.

Mit einer ruckartigen Bewegung stand ich auf, wobei ein unfassbarer Schmerz durch meine Schulter schoss, die ich mir nur vor wenigen Tagen ausgekugelt hatte und bei plötzlichen Bewegungen noch immer wehtat, und stolperte auf den kleinen Mülleimer in der Ecke zu. Würgend beugte ich mich herüber, doch der Burger blieb in meiner Magen. Ich durfte jetzt bloß nicht wieder in Panik ausbrechen, sondern musste nach einer rationalen Lösung suchen.

In dem Moment fiel mir siedend heiß eine solche ein:

Der Forensiker von Chad hatte gesagt, er könnte die ihm zugeschickte DNA-Probe vergleichen, wenn wir ihm eine andere liefern würden. Ich musste nur noch irgendwie an ein Haar oder ähnliches von Peter Jones kommen, es Chads Freund in New York zuschicken und seine Bestätigung abwarten, mit der ich sodann zur Polizei gehen konnte. Ich würde ihnen die Lösung sogar mit stichhaltigen Beweisen präsentieren, sodass sie selbst kaum noch tätig werden müssten.

Nur wie kam ich an eine solche Probe?

Hastig zog ich mir meinen Mantel wieder über und ließ den Konferenzraum hinter mir. Das alles könnte ich mir zu Hause überlegen, erst einmal musste ich aus dieser verfluchten Fabrik raus und mir eine gute Alarmanlage besorgen.

Alles würde wieder gut werden.

Alles würde wieder gut werden

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