Der Tag davor

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Der Tempel der Großen Zwei Drachen ragte in der Morgendämmerung majestätisch über dem Tal hervor. Still stand er auf dem Felsenvorsprung eines hohen Berges, ein zeitloser Riese, überwachsen mit roten Feuerblumen, welche in der Dunkelheit leuchteten.

Selbst der weite Weg dorthin wurde von denselben Blüten erhellt.

Man konnte ihn kaum verfehlen.

Aber für Bloom war es nicht das erste Mal, dass sie die steilen Treppen des Berges erklomm. Sie könnte den Tempel selbst mit geschlossenen Augen wiederfinden.

Jeden Morgen, noch vor der Dämmerung, stand sie auf, schlich sich aus dem Palast hinaus und machte sich auf den Weg. Sie könnte natürlich auch im Verlaufe des Tages, wie alle anderen, oder kurz vor Sonnenuntergang, wie ihre Eltern und ihre Schwester, gehen, doch sie mochte es ihre Ruhe zu haben.

Mochte es, die Stille mit ihren Gedanken und der Essenz der Großen Zwei zu teilen.

Ununterbrochen und geborgen.

Schon seit ihrer Kindheit war die Morgendämmerung ihre liebste Tageszeit gewesen. Denn nur dann konnte sie wirklich ungestört bleiben.

Das Schicksal schien heute jedoch andere Pläne zu haben.

Noch am Eingang bemerkte sie, dass jemand vor dem runden Wasserbecken im großen Saal kniete. Die langen, goldenen Haare, die in Wellen über den Rücken der Person fielen, verrieten ihr, wer da vor ihr war.

Leise, darauf bedacht nicht entdeckt zu werden, schlich sie sich wieder hinaus, ließ sich auf der obersten Treppenstufe nieder und ließ ihren Blick über das Tal gleiten. Eine leichte Brise fuhr ihr durch das offene Haar und sie atmete tief durch.

Jemanden bei seinen Gebeten zu stören war nicht nur unangebracht, sondern konnte auch den Geist des Ersten Hüters verärgern.

Zumindest war das ein weit verbreiteter Glaube.

Wenn sie jedoch an ihre Kindheit zurückdachte, dann war sie dazu geneigt diesem Gerücht sogar Glauben zu schenken. Sie war schon immer ein ungeduldiges Mädchen gewesen und hatte oft die Konsequenzen dafür tragen müssen... was sie jedoch nicht allzu sehr gebändigt hatte.

Ein Teil von ihr würde wohl nie wirklich stillsitzen können.

Sie wurde jeher aus ihren Gedanken gerissen, als sich Schritte ihr näherten. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie sich ihre Schwester neben sie setzte und kurz darauf müde über ihre Augen rieb.

Einer der wenigen Momente, wo sie Daphne so erschöpft, aber auch so entspannt sah. Sie wirkte dadurch viel offener... zugänglicher als normalerweise.

„ Bist du gerade erst von deiner Pilgerfahrt zurückgekommen?", fragte Bloom.

Es war ein alter Brauch, den ihre Schwester beschlossen hatte, wieder aufzunehmen. Die alten Hüter waren früher für mehrere Monate über ganz Domino gewandert. Sie waren damals in alle Tempel gegangen und hatten dort ihre Gebete gesprochen. Dabei hatten sie auch die Dörfer besucht, die in der Umgebung lagen, und den Bewohnern Hilfe erwiesen, wo sie nur konnten.

Vater und Mutter waren sich zunächst unsicher gewesen, ob es wirklich eine gute Idee war, wenn sich die Thronerbin so offen und angreifbar zeigte, doch Daphne hatte darauf beharrt, dass sie den Leuten nah sein wollte. Dass sie Vertrauen aufbauen wollte.

Außerdem war sie stark genug um sich zu wehren. Stärker, als jeder andere.

Letzten Endes hatte ihr das Königspaar, unter der Bedingung, dass sie mit einer Eskorte reisen würde, seinen Segen gegeben.

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